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Schreiben abseits aller Moden

Die Überraschung hätte größer nicht sein können: Mit dem Österreicher Walter Kappacher als neuem Büchner-Preisträger hatte nun wirklich niemand gerechnet. Dabei hat er einige wirklich beeindruckende Bücher vorgelegt. Immer, seit seinem Debüt in den frühen 70er-Jahren, hat er abseits aller Trends und literarischen Moden geschrieben.

Von Günter Kaindlstorfer | 28.10.2009
    Wäre der Begriff nicht derart abgenutzt, man müsste sagen: Walter Kappacher ist ein Meister der Entschleunigung. Der Büchner-Preisträger formuliert ebenso präzise wie bedächtig, im persönlichen Gespräch nicht anders als in seinen Romanen und Erzählungen. Kappachers "leise, musikalische Prosa" sei voll "melancholischer Unerbittlichkeit", heißt es in der Begründung der Büchnerpreis-Jury, "stets traurig, nie trostlos" seien Kappachers Bücher. Stets traurig, nie trostlos: fühlt sich damit auch der Autor zutreffend beschrieben?

    "Nein, überhaupt nicht. Wer mich näher kennt, weiß, dass ich auch sehr lustig sein kann. Das eine ist ja ohne das andere nicht zu haben. Peter Handke hat ja auch einmal gesagt, ich sei der ernsthafteste Mensch, den er kennt. Ich würde sagen: Das hat halt mit ihm zu tun. Im Umgang mit anderen Menschen bin ich nicht so ernst."

    Dabei ist Walter Kappacher sicher keiner, der sich in den Vordergrund spielt. Der Eitelkeiten-Jahrmarkt des Literaturbetriebs muss ohne ihn auskommen. Seit einigen Jahren lebt der Autor mit seiner Frau zurückgezogen in Obertrum bei Salzburg, ganz dem Schreiben hingegeben, dem Lesen, dem Fotografieren. An seinen Sätzen feilt und meisselt der 71-Jährige, bis sie ihm stimmig erscheinen. Obwohl, ganz stimmig erscheinen sie ihm nie.

    "Rhythmus, Genauigkeit, Anschaulichkeit sind mir wichtig. Ich liebe es auch bei Autoren, die ich lese, wenn Bilder in meinem Kopf entstehen und ich das nachleben kann."

    Die literarische Karriere ist Walter Kappacher nicht an der Wiege gesungen worden. Er stammt aus einfachen Verhältnissen. Aufgewachsen ist der gebürtige Salzburger in einer bedrückenden Atmosphäre aus materieller Not und österreichischer Nachkriegs-Tristesse. Sein Vater, ein Alkoholiker, hat sich wenig um den Buben gekümmert. Ablenkung, Anregung, Trost fand Walter Kappacher in der Welt der Bücher.

    "Als Kind weiß ich nimmer, ich weiß nur, dass ich Karl May gelesen hab. Abenteuerromane. In meinem Elternhaus, wie schon Gottfried Benn gesagt hat, hing kein Gainsborough. Es gab keine Bibliothek. Mein Vater hatte zwar ein paar Bücher, aber die waren eingeschlossen in einem kleinen Schränkchen. Erst als er gestorben ist, haben wir das aufgemacht, aber da war eh nix, was mich interessiert hätte."

    Das Milieu seiner Kindheit war ein zwar armseliges, erinnert sich Kappacher, allzu düster darf man es sich aber auch wieder nicht vorstellen.

    "Wir haben nie gehungert. Es hätte während des Krieges sein können, aber da hatten wir viele Verwandte auf Bauernhöfen im ganzen Land Salzburg, vor allem im Pongau. Und da sind wir immer wieder einmal ein paar Monate lang gewesen. Also, wir haben nie gehungert, aber meinen ersten Mantel habe ich doch erst mit neunzehn Jahren bekommen."

    Walter Kappacher ist längst versöhnt mit den Entbehrungen der Kindheit, der Jugend. Dass seine Familie nicht auf Rosen gebettet gewesen sei, habe ihm aus heutiger Sicht wohl nicht geschadet.

    "Ich hab das auch überhaupt nicht entbehrt, ich habe ja auch nichts anderes gekannt. Es ist nicht so, dass ich eine unglückliche oder entbehrungsreiche Kindheit gehabt hätte. Das stimmt überhaupt nicht. Mein Vater hat nach dem Krieg am anderen Ende der Stadt eine Art Blockhaus gebaut, mit einem seiner Brüder, und da haben wir dann bis 1955 gelebt. Das war am Rand einer riesigen Au, es war ein Paradies für mich. Auch für die anderen Kinder, die dort in der Gegend gelebt haben. Es war wunderbar."

    Im Salzburger Stadtteil Liefering entdeckt Walter Kappacher nicht nur seine Liebe zur Natur, er wird auch zum leidenschaftlichen Motorsport-Fan.

    "In Liefering befand sich damals, 1949, zwischen der Autobahn und dem Häusel, in dem wir gewohnt haben, eine große Au. Und auf der Autobahn hinter der Au hat immer am 1. Mai der "Große Preis von Österreich" für Motorräder stattgefunden. Das hat mich sofort fasziniert. Ich wollte dieser Sphäre nahe sein, und da entwickelte sich der Wunsch, dass ich in einer ganz bestimmten Werkstatt arbeiten wollte, in der damals zwei österreichische Staatsmeister und ein paar andere "wilde Hunde" gearbeitet haben. Ich habe mir eine Lehrstelle gesucht in dieser Werkstatt, was gar nicht einfach war. Und für drei, vier Jahre war das für mich eine großartige Zeit: das Zerlegen und Zusammenbauen der Motoren, das Fahren auf den Motorrädern, im Innenhof, und die Kollegen. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Es war eine schöne Zeit."

    In seinem Roman "Die Werkstatt", erschienen 1975, hat Walter Kappacher die Erfahrungen seiner Lehrzeit verarbeitet. In 21 Kapiteln, die auf chronologische Ordnungsprinzipien weitgehend verzichten, schildert Kappacher den Lebensweg des Motorradmechanikers Werner Seeger, der es vom Lehrling in einer Salzburger Kfz-Werkstatt zum Stock-Car-Rennfahrer in den Vereinigten Staaten bringt. Der Geschwindigkeitsrausch auf dem Motorrad: dem Protagonisten ist das Kompensation für ein entfremdetes Arbeiterleben.

    "Seeger hatte nichts außer den Motorrädern, den Motoren..."

    ... heißt es in "Die Werkstatt":

    "Wenn er fuhr, spürte er intensiv, dass er lebte."

    Aufbrüche, Ausbrüche aus dem als monoton empfundenen Erwerbsleben spielen eine zentrale Rolle in Kappachers frühen Romanen, die zu den vielleicht gelungensten Beispielen der sogenannten "Literatur der Arbeitswelt" zählen. Kappacher selbst hat sich nach seiner Mechanikerlehre als Milchmann und Reisebüro-Angestellter verdingt. Ende der 50er-Jahre beginnt er zu zeichnen, später versucht er sich auch als Schauspiel-Schüler. Eine, wie sagt man so schön, brüchige Berufs-Karriere.

    "Ich habe ja nie gewußt, was ich eigentlich im Leben werden soll oder kann oder will. Es hat ja eine Ewigkeit gedauert, bis ich zu schreiben begonnen habe. Bei mir dauert immer alles furchtbar lang. Und dann war das Problem, immer wenn ich das Gefühl gehabt hab, das kann ich jetzt, so wie in der Werkstatt oder im Reisebüro oder wo immer, wollte ich was anderes machen. Ich wollte nicht ewig das weiter machen, von dem ich das Gefühl hatte, das kannst du jetzt. Beim Schreiben bin ich hängen geblieben, weil ich auch nach 40 Jahren noch das Gefühl habe: Das wirst du nie können."

    Das sehen die Damen und Herren von der Deutschen Akademie offenbar anders. Mit Walter Kappacher zeichnen sie einen Autor aus, der mit staunenswerter sprachlicher Präzision und luzidem Einfühlungsvermögen in das Innere seiner Außenseiterhelden hineinlauscht, etwa auch in dem 1975 erschienenen Roman "Morgen". In diesem Werk wendet sich der Autor der Angestellten-Welt zu. In kühl-distanziertem Stil macht uns Kappacher mit einem Ich-Erzähler namens Winkler bekannt, seines Zeichens Dienstnehmer in einer Salzburger Werbeagentur. Winkler hasst seinen Job, nicht zuletzt eines Vorgesetzten namens Kotsch wegen.

    "Fräulein Riemer legte mir die Postmappe auf den Schreibtisch, und ich griff gleich danach. Obenauf lag ein Schreiben der Allianz-Versicherung. Kotsch hatte rechts unten mit rotem Kugelschreiber notiert: "Bitte Rücksprache!" Ich bekam gleich eine Mordswut... "Bitte Rücksprache!" Dabei hat der Kotsch überhaupt keine Ahnung, was zum Beispiel der Unterschied zwischen Offset und Buchdruck ist. Und so was will Büroleiter sein!"

    Seit seinem Debüt 1973 hat Walter Kappacher Buch um Buch geschrieben, von Kennern gelobt, von Liebhabern gepriesen. Erfolg, wirklichen Erfolg, hatte der Autor aber erst 2005 mit seinem Roman "Selina oder Das andere Leben". Die "Neue Zürcher Zeitung" pries den Roman als "großes, fulminantes" Werk, Gustav Seibt zog in der "Süddeutschen Zeitung" einen begeisterten Vergleich mit dem späten Stifter. Ähnlich der Tenor in vielen anderen Rezensionen.

    In "Selina oder Das andere Leben" erzählt Kappacher die Geschichte eines österreichischen Lehrers, der sich eine mehrmonatige Auszeit in der Toskana gönnt. In einer verfallenden Kate irgendwo zwischen Florenz, Arezzo und San Sepolcro versucht der Aussteiger auf Zeit an einem Drehbuch zu arbeiten. Allerdings nehmen ihn die Rodungs- und Aufräumarbeiten um das Haus so in Beschlag, dass er kaum mehr zum Schreiben kommt.

    "Vor einer Stunde hatten die Wolken sich plötzlich verzogen, die Sonne heizte die Wiese und das Haus auf. Nun saß er am Tisch im Schlaf- und Arbeitszimmer, die Nachmittagssonne verwandelte den bis zum Mittag düsteren Raum... Vor ihm lag der großformatige Notizblock. Auf der ersten Seite des Blocks hatte er sich geprüft, alle Gemüsesorten auf italienisch notiert, die ihm einfielen... Neben der Türöffnung bewegte sich ein Skorpion die Mauer hinauf. Jetzt, da die Mauern geweißt waren, erkannte man die kleinsten Tiere von weitem."

    Die Natur spielt in Kappachers präzise gearbeitetem Toskana-Roman eine zentrale, tatsächlich an Stifter gemahnende Rolle. Auch in anderen Büchern finden die Kappacherschen Protagonisten in der Natur ihren pathetisch aufgeladenen Aufbruchs- und Besinnungsraum. In diesem Punkt dürfen sie wohl als getreue Abbilder ihres Schöpfers gelten. Auch Walter Kappacher ist begeisterter Naturliebhaber - und ein fanatischer Spaziergänger.

    "Das ist auch für meine Arbeit unverzichtbar. Wenn ich nicht am Nachmittag gegangen bin und dabei vor mich hinphantasiert hätte, tagträumend, dann kann ich am nächsten Tag nicht recht zum Schreiben anfangen. Das ist wichtig."

    Mit seinen peripatetischen Obsessionen allein ist es indes nicht getan: Walter Kappacher ist so gut wie immer mit der Kamera unterwegs, wenn er zu seinen Spaziergängen im Obertrumer Umland aufbricht.

    "Es ist tatsächlich so, dass ich seit 2004 an einem bestimmten Uferstück des Grabensees fotografiere, immer an derselben Stelle, immer das Schilf, und im Winter immer das Eis, das dann bricht und in Stücke zerfällt."

    Was genau fasziniert den Autor an Eisbruchstellen?

    "Es ist Schönheit pur. Meistens ist es eine abstrakte Schönheit, aber nicht nur. Das Seeufer ist an dieser Stelle mit Felsbrocken bedeckt, die vielleicht durch einen Sturmwind in kleinere Teile zerlegt und ans Ufer geschwemmt worden sind. Das betrachte und fotografiere ich. Das ist nicht nur abstrakt, es gibt da auch wunderschöne gegenständliche Bilder."

    Walter Kappacher, man hört es, ist ein genauer Beobachter: eine Qualität, die auch in seinen Büchern zum Tragen kommt. Dabei träumt der Autor von so etwas wie dem "reinen Schreiben".

    "Je älter ich werde, umso mehr gelingt mir das, was ich mir früher immer gewünscht habe: nichts mehr zu wollen, sondern zu warten, bis das Unterbewusstsein etwas herausrückt."

    Wie seine Protagonisten drängt sich auch Walter Kappacher nicht gern in den Vordergrund. Menschenaufläufe meidet der Autor, so gut es geht. Zur Verleihung des Büchner-Preises allerdings wird Kappacher das heimatliche Obertrum verlassen müssen. Nervös?

    "Noch nicht. Das kommt schon noch!"

    Kappacher's jüngstes Werk, "Der Fliegenpalast", rezenziert im Büchermarkt: