Freitag, 19. April 2024

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Schriftsteller Chaim Noll
"Religion ist in Israel keine altmodische Sache"

Der deutsch-israelische Schriftsteller Chaim Noll macht sich keine Sorgen um die Zukunft der jüdischen Religion in Israel. "Die Synagoge findet genug Beachtung", sagte Noll im Dlf. Israel sei "ein traditionsbewusstes Volk, zugleich modern und zukunftsorientiert."

Chaim Noll im Gespräch mit Andreas Main | 13.04.2018
    Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (links) steht neben dem deutsch-israelischen Schriftsteller Chaim Noll am Grab des ehemaligen Premierministers von Israel, David Ben-Gurion.
    Chaim Noll empfängt den deutschen Politiker Reiner Haseloff in seiner israelischen Heimat - die hat er nach einer langen Reise in der Wüste Negev gefunden, wo auch David Ben-Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, beerdigt ist (picture alliance / dpa)
    Andreas Main: Der Schriftsteller Chaim Noll ist schon viele Wege gegangen, hat sich neue Welten erschlossen. 1954 in Ost-Berlin geboren, wächst er auf in einer Familie, die man wohl zur DDR-Elite zählen muss. Sein Vater ist der Schriftsteller Dieter Noll. Chaim Noll, damals noch Hans Noll, lässt sich in eine Nervenklinik einweisen, um nicht von der Nationalen Volksarmee eingezogen zu werden - erfolgreich. Eine lange, dramatische Geschichte in einem Satz: 1984 siedelt Noll von Ost-Berlin über nach West-Berlin. Dann geht es weiter nach Rom für ein paar Jahre. Dann ziehen er und seine Frau, beide mit jüdischen Wurzeln, nach Israel - aber nicht einfach nach Israel, sondern in die Wüste, genauer in die Wüste Negev. Und er geht noch einen Schritt weiter. Aus Hans Noll wird Chaim Noll. Aus dem Ost-Berliner wird auch ein Israeli und aus dem Kind, das in einer stramm atheistischen Familie aufgewachsen ist, wird ein religiöser Jude. Und anders als bei vielen israelischen Schriftstellern, zumindest bei denen, die bei uns verlegt werden, spielt die Religion in seinem Werk eine Rolle. Darüber wollen wir sprechen mit diesem Wanderer zwischen den Welten. Chaim Noll kommt selten nach Deutschland. Wir haben eine Gelegenheit beim Schopf gefasst und haben uns verabredet zu einem in Berlin aufgezeichneten Gespräch. Guten Tag und willkommen, Chaim Noll.
    Chaim Noll: Guten Tag.
    Main: Ich habe Sie als religiösen Juden bezeichnet. Sie tragen hier in Berlin trotz allem eine Kippa. Sie sind orthodoxer Jude.
    Noll: Ja, kann man so sagen. Die Kippa trage ich zu Hause auch und deswegen trage ich sie auch hier. Also, ich mache da keinen Unterschied und bisher ist auch nichts Unerfreuliches passiert.
    Main: Darf ich fragen, wie orthodox Sie sind?
    Noll: Ich bin, wie man so sagt, modern-orthodox. Das ist eine Richtung, die von dem deutschen Rabbiner Samson Raphael Hirsch im 19. Jahrhundert entwickelt worden ist. Die nennt sich "Torah Derech Eretz", die Torah in Verbindung mit der Erde. Also, es ist eine betont praktisch orientierte Richtung der Orthodoxie.
    Man ist zwar orthodox in dem Sinne, dass man sich bemüht, die Gebote einzuhalten und, soweit man es schafft, orthodox zu leben. Andererseits geht man aber einem Beruf nach, verdient Geld. Es ist also nicht die Richtung der Orthodoxie, die sich dann ganz ins Religiöse stürzt und mit ganztägigem Torah-Studium die Männer unfähig macht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Also, wir leben wie ganz normale Israelis. Wir gehen aber in die Synagoge und halten die Feiertage und die Kaschrut und so weiter.
    "Am Ziel angekommen"
    Main: Ich habe Sie eben in die Schublade "Wanderer zwischen den Welten" gepresst. Sind Sie in der Wüste und in der jüdischen modernen Orthodoxie am Ziel angekommen - oder suchen Sie weiter?
    Noll: Wir sind, glaube ich, am Ziel angekommen. Wir wundern uns selbst ein bisschen darüber, wo das ist. Es ist fast jeden Tag so, dass wir darüber staunen, wo wir eigentlich hingekommen sind. Aber es war dann ganz folgerichtig. Wir sind natürlich nicht von Anfang an in Israel in der Wüste gewesen, sondern haben wie fast alle Einwanderer in Tel Aviv angefangen. Aber dann wurde ich von der Universität in Be'er Sheva, die damals noch sehr klein und im Aufbau befindlich war, eingeladen, ein Zentrum für Deutsche Studien in der Wüste in Israel zu gründen. Das schien ein eher verrücktes Projekt.
    Aber wir haben das nie bereut, weil der Süden Israels in den 20 Jahren, in denen wir jetzt dort sind, oder 22 Jahren, einen enormen Aufschwung genommen hat, sodass wir da alle recht gut untergekommen sind.
    "In Wüstenrandgebieten entstanden Schrift und Religion"
    Main: Ist die Wüste der Ort der Religion? Immerhin haben drei monotheistische Weltreligionen ihre Wurzeln in Wüstenregionen.
    Noll: Ja, die Wüste ist tatsächlich der Ort, an dem die großen Gesetze der Menschheit entstanden sind, schon vor den drei monotheistischen Religionen. Schon der "Hammurapi Codex" ist in der Wüste entstanden. Also, schon die Sumerer haben Grundlagen für die heutige Zivilisation gelegt. Die alten Ägypter. Das sind Wüstenrandgebiete, sage ich immer.
    Ein Blick auf die israelische Stadt Be'er Sheva in der Wüste Negev.
    Die Stadt Be'er Sheva in der Wüste Negev. (imago stock&people)
    Es ist nicht direkt in der Wüste, im Unterschied zu Arabien, wo eben Stämme direkt in der Wüste lebten. Da ist die Kulturentwicklung völlig anders verlaufen. Aber in Wüstenrandgebieten kam es früh zur Entwicklung von Schrift und damit eben auch von Texten. Und die ersten Texte beschäftigten sich dann meistens mit mythologischen Fragen, sodass auch Religion sehr früh, wie man sagt, verschriftlicht wurde. Und daraus sind dann die großen schriftlichen Gesetzeswerke der monotheistischen Religionen entstanden.
    "Religion ist in Israel keine altmodische Sache"
    Main: Nun kenne ich nicht Ihr ganzes Werk, aber immerhin den Erzählungsband "Schlaflos in Tel Aviv" und den Roman "Die Synagoge". Der spielt in einem Wüstendorf. Er kreist um die Synagoge. Allein das ist schon ungewöhnlich, denn es ist eine Binse: Nicht jede Jüdin und jeder Jude ist religiös. In diesem Ort aber geschehen Dinge, die dazu führen, dass die Synagoge wieder mehr Beachtung findet. Wünschen Sie sich das insgesamt für die israelische Gesellschaft?
    Noll: Ich bin da ganz unbesorgt. Insgesamt hat die Synagoge in Israel genug Beachtung. Das ist ein sehr traditionsbewusstes Volk, zugleich sehr modern und zukunftsorientiert. Und man hat es irgendwie geschafft, das zu verbinden. Also, Religion ist in Israel keine altmodische Sache, sondern junge Leute, die den ganzen Tag in einer Hightech Company arbeiten, gehen dann trotzdem am Sabbat in die Synagoge. Da muss man sich nicht groß sorgen.
    Nur an dem Ort, an dem der Roman spielt, war es eben nicht so. Da war nun eine Kommunität von zum größten Teil Einwanderern aus westlichen Ländern und Naturwissenschaftlern, die sich nicht für Religion interessierten. Und dadurch ist es dann da eben zu sehr dramatischen Entwicklungen gekommen.
    Sonst ist in Israel die Teilnahme am religiösen Leben eigentlich recht groß. Was nun nicht heißt, dass alle orthodox sind. Aber, dass man zur Synagoge geht, dass man die Hauptfeiertage einhält, dass man die wichtigen Ereignisse des Lebens, wie Geburt von Kindern, Bar Mizwa, Hochzeit und so weiter mit der Synagoge verbindet, das ist sehr weit verbreitet.
    "Das Volk Israel war von Anfang an sehr heterogen"
    Main: Was mich an dem Roman sehr beeindruckt hat - Sie erzählen ja aus vielen Perspektiven, sodass der Leser einen Eindruck bekommt, wie die israelische Gesellschaft tickt, auch mit Blick auf die Religion. Es gibt da eben jene stramm Säkularen, oft politisch links, und dann die sehr Frommen, oft politisch rechts, und dazwischen viele, viele, viele Abstufungen. Und diese Meinungsvielfalt produziert Konflikte. Ist das Paradoxe, das Diverse, Ihre Grunderfahrung nach 20 Jahren in Israel?
    Noll: Ja, das ist aber historisch über viele Tausend Jahre so vorbereitet. Das Volk Israel, wie wir uns ja verstehen, war von Anfang an sehr heterogen. Dieses Volk definiert sich religiös, was ganz außergewöhnlich ist, nicht ethnisch. Alle anderen Völker in der Regel definieren sich ethnisch. Das sind Menschen, die am selben Ort in verwandtschaftlicher Beziehung und so weiter aufgewachsen sind. Die nennen sich dann "Volk". Das Volk, das am Sinai gegründet wurde durch die Gesetzeserteilung - so ist also unsere Tradition - war multi-ethnisch von Anfang an. Wer auch immer, ob er nun schwarz war oder weiß oder was auch immer, das Gesetz angenommen hat, wurde in das Volk aufgenommen. Und damit ist die Definition von vornherein die eines Volkes mit sehr großer heterogener Spannung in sich. Und man hat eben über die Jahrtausende Techniken entwickelt des Umgangs miteinander, des Lebens miteinander, die es bis heute erlauben, extrem diverse und auch oft gegensätzliche Positionen zu vereinbaren, dass man dann doch irgendwie zu einem konstruktiven Zusammenleben kommt.
    Der Schriftsteller Chaim Noll
    Der Schriftsteller Chaim Noll (Verbrecher Verlag / Alexander Janetzko)
    Ja, wir sind sogar der Meinung, dass es dadurch überhaupt so kreativ ist, weil es so widersprüchlich ist.
    "Diese Religionsgemeinschaft verstand sich dann als Volk"
    Main: Sie betonen jetzt gerade stark den Aspekt des Volkes. Andere tun das weniger. Da stecken natürlich auch Interessen dahinter. Wenn jemand den Aspekt des Volkes, des jüdischen Volkes hervorhebt, welche Interessen hat er dann?
    Noll: Ja, der ist eigentlich gegeben durch die Torah, also durch die mosaischen Bücher. Dieses Gebilde, was durch eine Rebellion entstand, nicht? Das ist ja, was der Marxist Ernst Bloch immer so schön in seinem berühmten Buch "Das Prinzip Hoffnung" herausgearbeitet hat, dass dieses Volk aus einer Rebellion heraus entstand. Das macht es schon mal sehr besonders, auch im Umgang miteinander. Gegenmeinungen und so weiter sind von vornherein beliebt und impliziert. Und dieses Volk hat sich eben religiös gegründet. Und von daher, ja, aber als Volk, nicht? Dieses Gebilde wurde dann "Am Israel" genannt.
    Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch (undatiert).
    Der Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch beschrieb die Anfänge des jüdischen Volkes als Akt der Rebellion (dpa / picture alliance)
    Also, es gibt Leute, die sagen, wir sind nur eine Religionsgemeinschaft. Das trifft es nicht, sondern diese Religionsgemeinschaft verstand sich dann als Volk.
    Main: Wer das Judentum nur als Religionsgemeinschaft versteht, welche Gefahren sehen Sie da?
    Noll: Na ja, das sind meistens Juden, die sich an einem anderen Ort assimilieren wollen.
    Main: In der Diaspora?
    Noll: Ja. Und dann betonen, dass sie eigentlich Deutscher sind oder Engländer oder Amerikaner, nur jüdischen Glaubens. Eigentlich ist dieser Unterschied schwer zu machen. Also, Jude ist Jude. Wenn man sich dem mosaischen Gesetz verbunden fühlt, und wenn man sagt, ich bin Jude und ich gehöre in diese Traditionslinie, dann gehöre ich auch in das Volk.
    "Ich bin natürlich absolute Minderheit"
    Main: Herr Noll, neulich las ich in der Jüdischen Allgemeinen die Einschätzung einer Wissenschaftlerin, die davon sprach, es sei frappierend, dass ins Deutsche nur israelische Schriftsteller übersetzt würden, die politisch links stünden und bei denen Religion keine Rolle spiele. Inwieweit teilen Sie diesen Eindruck?
    Noll: Überwiegend ist das so. Und es war auch eine Zeit lang Mode, diese Schriftsteller herauszusuchen. Amos Oz oder Grossmann, die regelrecht im Ausland gemacht wurden, ja, die in Israel viel weniger beliebt und bekannt sind als in Europa. Aber inzwischen ist die Verschiedenheit israelischer Stimmen auch in Europa angekommen, dass es da eben sehr verschiedene gibt.
    Es fängt ja schon mit den Sprachen an. Es gibt auch in dem Sinne keine israelische Literatur, da israelische Literatur in ganz verschiedenen Sprachen geschrieben wird. Ich bin natürlich absolute Minderheit, indem ich Deutsch schreibe. Aber es gibt sehr viele russischsprachige Autoren zum Beispiel. Es gibt sehr viele englischsprachige jüdische Autoren in Israel. So, das alles ist israelische Literatur. Und da gibt es auch ganz verschiedene Stimmen.
    "Ein israelischer Autor ist für einen Verlag eher ein Problem"
    Main: Nun erscheint Ihr Werk im dezidiert linken Verbrecher Verlag. Was zieht Sie wechselseitig an?
    Noll: Ich bin zu dem Verlag gekommen durch Vermittlung meines leider inzwischen verstorbenen Agenten Uwe Heldt und war zunächst sehr skeptisch. Das waren damals sehr junge Leute. Nur, was mir gleich gefallen hat: Sie waren eben pro-israelisch. Das hat eine Rolle gespielt.
    Ich hätte nicht mit einem Verlag arbeiten können, der mit Israel irgendwelche Probleme hat. Ein israelischer Autor ist eher für den Verlag ein Problem, nicht? Da gibt es starke Schwankungen in der Aufnahme. Es gibt auch antipathische Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Es ist nicht so, dass man da nun überall beliebt ist.
    Main: Nein, gerade, wenn man dann auch noch für die "Achse des Guten" schreibt, die nicht bei jedem beliebt ist, aber offensichtlich den Verbrecher Verlag, den linken, nicht abschreckt. Ist ja eigentlich hochspannend.
    Noll: Nein, ich weiß jetzt nicht, wie die Achse hier inzwischen eingeschätzt wird. Also, Henryk Broder ist ein alter Bekannter von mir - und ich kenne ihn noch als ganz links. Ich staune jetzt, wenn ich hier höre, dass die "Achse des Guten" inzwischen als rechts gilt. Ich bin jetzt 25 Jahre aus Deutschland weg und ich kann vieles einfach nicht mehr nachvollziehen, was hier geschieht. Also, ich schreibe für die "Achse des Guten", weil ich eben dort über jüdische Themen, Israelpolitik und so weiter sehr offen schreiben kann, was leider in deutschen Zeitungen zurzeit nicht möglich ist.
    "Eine Theokratie kann Israel nicht werden"
    Main: Sie verteilen dort ganz ordentlich in politischen Fragen. Das ist jetzt an dieser Stelle nicht unser Geschäft. Lassen Sie uns bei der Religion bleiben. Es gibt ja in Israel auch diese Spannung zwischen Religionsgesetz, das bis ins Zivilrechtliche hineinreicht, und dem staatlichen Gesetz, vor dem zwar alle Israelis gleich sind, inklusive arabische Israelis. Aber doch gibt es diese Spannung und es gibt in allen monotheistischen Religionen die Tendenz, so etwas wie eine Theokratie durchsetzen zu wollen. Wie stark sind die Tendenzen in Israel, dass sozusagen der religiöse Part vielleicht auch aus Ihrer Sicht zu wichtig wird?
    Noll: Also, Theokratie trifft es nicht, denn die Rabbiner sind keine Priester, sondern nur Lehrer. Es sind … Also, eine Theokratie in dem Sinne kann es nicht werden. Aber, dass sie zu viel Mitspracherecht in manchen Dingen haben, finden viele Israelis. Rabbiner neigen dazu, die Bevölkerung zu bevormunden. Das muss man sagen. Also, jedenfalls einige von ihnen. Und vieles, was sie dann vortragen, ist auch wirklich heute nicht mehr haltbar.
    Ein orthodoxer Rabbiner in Jerusalem informiert ein jüdisches Ehepaar vor der Hochzeitszeremonie über ihre Pflichten in der Ehe.
    Ein orthodoxer Rabbiner informiert ein jüdisches Brautpaar vor der Hochzeitszeremonie über ihre Pflichten in der Ehe (imago / ZUMA Press)
    Aber im Grunde ist das kein allzu großes Problem, denn es ist letztlich auf freiwilliger Basis, ob ich auf den Rabbiner höre oder nicht. Also, wer sich dem Einfluss der Rabbiner entziehen will, kann das auch gerne tun.
    Main: Und Sie haben ja auch das Gegengewicht einer großen Zahl säkularer Israelis, die wahrscheinlich auf die Straße gingen, wenn es starke Tendenzen in Richtung, ich sage mal böse, Gottesstaat geben würde.
    Noll: Ja, so schlimm kann es nicht werden. Also, sie haben natürlich die Hand auf der Hochzeit und solchen Dingen, dass man nur in Israel heiraten kann, wenn beide Partner halachisch, jüdisch sind. Ja, dann heiraten eben viele Israelis im Ausland. Das kommt vor. Die heiraten vornehmlich auf Zypern oder in Bulgarien. Das sind beliebte Ausweichorte für die, wo es halachische Probleme gibt, wo also die Rabbiner aus irgendeinem Grund einen der Partner nicht als vollkommen jüdisch anerkennen. Und das wird dann aber im staatlichen Gesetz doch als Ehe anerkannt. Also, ich kenne eine Menge solche Ehen, die nicht von israelischen Rabbinern abgesegnet sind und trotzdem vorm staatlichen Gesetz als Ehe gelten und die Kinder als eheliche Kinder.
    "Im Eiltempo durchgelaufen"
    Main: Abschließend, wenn ich mir noch mal den weiten Weg vor Augen führe von der kommunistischen Familie in Ost-Berlin hin zum modern-orthodoxen deutsch-israelischen Schriftsteller in der Wüste Negev – wie viel Kraft hat Sie das gekostet?
    Noll: Ja, das werden wir jetzt im Alter langsam merken. Bisher sind wir so im Eiltempo durchgelaufen. Jetzt, wo wir älter werden, merke ich doch, dass es offenbar einige Kraft gekostet hat, auch mental, nicht? Es waren eben doch manchmal große Bewegungen, auch im Kopf. Das hat auch sehr viel Spaß gemacht. Also, für einen intelligenten Menschen ist das auch eine Herausforderung.
    Main: Sie wirken aber wie ein junger Mann.
    Noll: Gut, also jetzt unter Adrenalin, wenn man hier in Berlin ist und ich treffe viele Leute. Wenn ich dann zu Hause in der Wüste bin, gibt es dann doch Augenblicke, wo ich merke, dass das ein weiter Weg war, ein langer Weg - und auch in manchen Perioden sehr anstrengend. Eben wirklich Metamorphosen an sich selber zu erleben, in der Grundhaltung zum Leben, zur Gesellschaft und so weiter, die man sich als junger Mann nicht zugetraut hätte. Aber es ging dann irgendwie. Auch, weil wir zu zweit sind. Meine Frau ist auch diesen ganzen Weg … sie ist ja sogar dann ins Judentum konvertiert. Ich habe das, wie das in Israel üblich ist, mit begleiten müssen. Die Ehemänner, auch wenn sie jüdisch sind, nehmen daran teil. Das ist mir auch sehr gut bekommen.
    Denn ich wusste fast nichts über Judentum und habe dann sehr viel lernen müssen in einem bestimmten Alter noch mal, mit Mitte 40, wo die meisten Leute abgeschlossen haben und ihre Karriere so weit ist, dass sie da bleiben, wo sie jetzt sind, haben wir eben noch mal ganz von vorn angefangen. Aber das ist uns auch ganz gut bekommen.
    Main: Das Judentum missioniert nicht. Wenn Sie jetzt dennoch versuchen müssten, mich zu überzeugen, es Ihnen gleichzutun und diesen langen Weg auch zu gehen, auf welches Argument würden Sie setzen?
    Noll: Ich weiß nicht, ob ich das tun würde. Ich bin nicht sicher, dass das jedem bekommt, und dass das jeder machen kann. Das erlebt man dann, ob man dazu imstande ist. Viele brechen das auch ab. Viele gehen nicht so weit wie wir. Das ist wirklich eine ganz individuelle Sache.
    Main: Der Schriftsteller Chaim Noll und die Religion. Herr Noll, danke für Ihre Eindrücke aus Israel.
    Chaim Noll: "Die Synagoge"
    Verbrecher Verlag 2014, 448 Seiten, 29 Euro
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.