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Schriftsteller Gabriel García Márquez
Revolutionäre Pflicht zum guten Schreiben

Die Dankesrede für seinen Nobelpreis für Literatur 1982 nannte Gabriel García Márquez (1927 - 2014) in Anspielung auf seinen Bestseller "Die Einsamkeit Lateinamerikas". Mit dem Titel "100 Jahre Einsamkeit" war er 15 Jahre zuvor über Nacht weltberühmt geworden.

Von Tom Noga | 05.03.2016
    Porträtaufnahme des 87jährigen Gabriel Garcia Marquez
    Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez lebte in Mexico-Stadt. (picture alliance / dpa / Mario Guzman)
    Es beschrieb das Trauma des Subkontinents, das darin liegt von der so genannten ersten Welt wahlweise bevormundet und ignoriert zu werden. Vor allem aber brachte es das literarische Schaffen des 1927 in Aracataca, im Hinterland der kolumbianischen Karibikküste geborenen und 2014 in Mexico City verstorbenen Schriftstellers auf einen Nenner: Die Einsamkeit Lateinamerikas und seiner Bewohner.
    In 15 Romanen, sechs Erzählbänden, drei Reportagen, einer Kurzgeschichte, einer Autobiografie und je einem Drehbuch und Theaterstück hat Gabriel García Márquez dem Subkontinent eine Stimme gegeben und gleichzeitig unser Südamerikabild geprägt.
    Wie kein anderer Schriftsteller vor ihm war er aber auch Pop-Star und Weltgewissen. Er war mit dem Mächtigen seine Zeit befreundet, mit Bill Clinton, François Mitterand, Felipe González und vor allem mit Fidel Castro, dessen Revolution er bis zuletzt die Treue hielt. Und blieb gleichzeitig tief verwurzelt in seiner karibischen Heimat.

    El Caribe: eine Spurensuche
    Gabriel García Márquez: "Antonio Pigafetto, ein florentinischer Seefahrer, der Magellan auf der ersten Reise um die Welt begleitete hatte, schrieb auf dem Weg durch unser südliches Amerika eine genaue Chronik, die trotzdem einem Abenteuer der Fantasie gleicht. Er erzählte, er habe ein Schwein mit dem Nabel auf dem Rücken gesehen und einige Vögel ohne Füße, die Weibchen brüteten auf den Schultern der Männchen, und andere Vögel wie zungenlose Pelikane, deren Schnäbel Löffeln glichen. Er erzählte er habe eine tierische Missgeburt gesehen, mit dem Kopf und den Ohren eines Maultiers, dem Körper eines Kamels, Hirschhufen und dem Wiehern eines Pferdes."
    Kleidung entgegen der Etikette
    Stockholm 1982: Ein kleiner Mann steht auf dem Podium. Ihm ist soeben der Nobelpreis für Literatur verliehen worden. Nun hält er eine Rede, in der er die geladenen Gäste in eine andere Welt entführt, in die Geschichte Lateinamerikas. Es ist die Welt, aus der er kommt. Gabriel García Márquez, zu diesem Zeitpunkt 55 Jahre alt, ist Kolumbianer, geboren und aufgewachsen an der Karibikküste des Andenlandes. Seine Herkunft drückt sich auch in seiner Kleidung aus: Statt Frack und Fliege, wie es die Etikette zu diesem Anlass gebietet, trägt er eine weiße Stoffhose und eine Guayabera, ein weißes Leinenhemd, das in der Karibik im Geschäftsleben den Anzug ersetzt und bei Feiern die Festkleidung. Ab und an schwenkt die Kamera auf das schwedische Regentenpaar. König Carl Gustav sitzt aufrecht, die Hände auf die Stuhllehnen gepresst. Man meint, einen Hauch Missbilligung in seiner Miene zu entdecken.
    Im Dezember 1982 ist Gabriel García Márquez auf dem Höhepunkt seines Lebens. Er gilt als Stimme Südamerikas, nicht als einzige natürlich, aber als die, der man Gehör schenkt. Zu seinen persönlichen und politischen Freunden zählen Machthaber: Kubas Staatschef Fidel Castro, Frankreichs Präsident François Mitterand, der Sozialist Felipe González, der wenige Tage zuvor als spanischer Ministerpräsident vereidigt worden war.
    Gabriel García Márquez: "Er berichtete, dem ersten Eingeborenen, dem sie in Patagonien begegnet seien, hätten sie einen Spiegel vorgehalten. Und dieser erregte Riese habe, erschrocken über sein eigenes Ebenbild, den Verstand verloren. Dieses kurze und fesselnde Buch, das bereits die Keime unserer heutigen Romane enthält, ist keineswegs das erstaunlichste Zeugnis unserer Wirklichkeit aus jener Zeit. Die Chronisten Spanischamerikas haben uns unzählige andere Zeugenaussagen hinterlassen."
    Gabriel García Márquez erzählt von Eldorado, dem mythischen Goldland, das die spanischen Eroberer im Hochland Kolumbiens zu finden hofften. Von Álvaro Núñez Cabeza de Vaca, der wirklich so hieß, Kuhkopf. Und den Norden Mexikos auf der Suche nach der ewigen Jugend durchkämmte mit einem Heer von 600 Mann, die sich irre vor Hunger gegenseitig zerfleischten und von dem nur fünf das Ende des Kriegszugs erlebten. Von jenen 11.000 Maultieren, jedes einzelne beladen mit 100 Kilogramm, die eine Hälfte mit Gold, die andere mit Silber, mit denen die Inkas ihren König Atahualpa aus spanischer Gefangenschaft freikaufen wollten und die bis heute als verschollen gelten.
    Die Einsamkeit Lateinamerikas als Thema
    Er erzählt von Gewaltherrschern und Ungleichheit, von Tod und Verderben, Leid und Gleichgültigkeit. Die Rede trägt den Titel "La soldedad de América Latina", die Einsamkeit Lateinamerikas. Das nimmt Bezug auf "100 Jahre Einsamkeit", den Roman, mit dem Gabriel García Márquez im Jahr 1967 Weltruhm erlangte. Und bringt gleichzeitig das literarische Schaffen des Schriftstellers auf einen Nenner: Die Einsamkeit Lateinamerikas und seiner Bewohner - das war sein Thema, in 15 Romanen, sechs Erzählbänden, drei Reportagen, einer Kurzgeschichte, einer Autobiografie und je einem Drehbuch und Theaterstück - betrachtet aus einem karibisch-kolumbianischen Blickwinkel.
    Als Vorsitzender der Fundación Nuevo Periodismo war Gabriel García Márquez bis zu seinem Tod am 17. April 2014 Jaime Abellos Arbeitgeber. Die Stiftung hatte er im Jahr 1994 gegründet, um unabhängigen und kritischen Journalismus in Lateinamerika zu fördern. Das war und ist nötig auf dem Subkontinent, weil sich Verlage oft in den Händen reicher Familien befinden und mit TV-Sendern und politischen Interessen verwoben sind. Die Stiftung vergibt einen Preis. Dessen Verleihung, jedes Jahr im Herbst, ist eines von drei großen kulturellen Ereignissen in Cartagena, neben einem Literatur- und einem Filmfestival - auch sie gehen auf Gabriel García Márquez zurück.
    • www.nuevoperiodismo.org - Fundación Gabriel García Márquez para el Nuevo Periodismo Iberoamericano (auf Spanisch)
    La Casa: die Entstehungsgeschichte von "100 Jahre Einsamkeit"
    "Die einzige Möglichkeit, von Barranquilla nach Aracataca zu gelangen, war ein klappriges Motorschiff, das auf einem in der Kolonialzeit von Sklavenhand ausgehobenen Kanal fuhr, dann durch ein weites, sumpfiges Gewässer, trüb und trostlos, bis zur rätselhaften Ortschaft Ciénaga."
    Aus "Leben, um davon zu erzählen, der Autobiografie von Gabriel García Márquez:
    "Dort bestieg man einen Bummelzug, der ursprünglich der beste des Landes gewesen war, und fuhr, mit vielen müßigen Unterbrechungen in staubglühenden Dörfern und an einsamen Bahnhöfen, die letzte Strecke durch unermessliche Bananenplantagen. Auf diesen Weg machten meine Mutter und ich uns am Samstag, dem 18. Februar 1950 um sieben Uhr abends – es war der Vorabend des Karnevals –, unter einem sintflutartigen Platzregen außerhalb der Zeit und mit einer Barschaft von 32 Pesos, die knapp für die Rückfahrt reichen würden, falls das Haus sich nicht zu den erwarteten Konditionen verkaufen ließ.
    Der Zug hielt an einer Bahnstation ohne Dorf und fuhr kurz darauf an der einzigen Bananenplantage vorbei, an deren Portal ein Name stand: Macondo. Das Wort war mir schon bei meinen ersten Reisen mit dem Großvater aufgefallen, doch erst als Erwachsener entdeckte ich, dass mir sein poetischer Klang gefiel. Ich hatte es nie wieder gehört, mich nicht einmal gefragt, was es bedeutete, es jedoch bereits in drei Büchern als Name für ein imaginäres Dorf verwendet, als ich zufällig in einer Enzyklopädie entdeckte, dass es sich um einen tropischen, der Ceiba ähnlichen Baum handelt, der weder Blüten noch Früchte entwickelt und dessen schwammiges Holz zum Bau von Kanus und zum Schnitzen von Küchengerät verwendet wird.
    Später entdeckte ich in der Encyclopaedia Britannica, dass es in Tanganjika den Nomadenstamm der Makondos gibt, und dachte, das könnte der Ursprung des Wortes sein. Dem bin ich aber nie nachgegangen, habe auch den Baum nie gesehen, weil mir keiner Auskunft geben konnte, obwohl ich in der Bananenregion oft danach gefragt habe. Vielleicht hat es den Baum nie gegeben."
    Dagmar Plötz: "Da überlappen sich natürlich Bilder, weil ich Reportagen gesehen habe vom jetzigen Aracataca und auch, wie er da hin gefahren ist zur Feier seines 80. Geburtstags."
    Dagmar Plötz. Die Münchenerin hat die späten Werke von Gabriel García Márquez ins Deutsche übersetzt und eine Biografie über ihn geschrieben.
    Dagmar Ploetz: "Gabriel García Márquez. Leben und Werk", Kiepenheuer & Witsch 2010: Anregend, informativ, spannend - eine Monografie über Gabriel García Márquez: Dagmar Ploetz, eine exzellente Kennerin des Werkes von García Márquez – sie hat sieben seiner Bücher übersetzt –, stellt überzeugend dar, wie Leben und Werk sich durchdringen. Die erstmals 1992 erschienene Monografie wurde von der Autorin überarbeitet und fortgeschrieben. Eine fesselnde Darstellung, die ideal ist für Studenten, Schüler, Lehrer. Sie macht Lust, Gabriel García Márquez zu lesen oder wieder zu lesen.
    Vermischung von Realem und Surrealem
    Was Gabriel García Márquez von den anderen Autoren des Boom abhob, war seine Erzählweise, das ständige Vermischen von Realem und Surrealem, von Handlung und Traum. Dadurch verschob er nicht nur die Grenzen der Realität, er erweiterte sie. Kritiker prägten dafür den Begriff "realismo mágico", magischer Realismus.
    Dagmar Plötz: "Ich habe immer ein bisschen Probleme mit diesem Begriff, ich bin da nicht so glücklich drüber, weil er das alles in so etwas Kunstgewerbliches rein rückt. Gut, das hängt auch damit zusammen, dass es sehr viele Epigonen gegeben hat. Aber ich verstehe den magischen Realismus bei García Márquez ebenso, dass die gesamte Vorstellungswelt zur Realität gehört und diese beeinflusst und insofern Realität schafft."
    In der Casa Museo García Márquez setzt sich Rafael Darío unter einen Kastanienbaum, dessen Krone den gesamten Patio beschattet. Der Baum hat schon in der Kindheit des Nobelpreisträgers hier gestanden - das geht aus seiner Autobiografie hervor. In "100 Jahre Einsamkeit" wird José Arcadio Buendía an den Stamm gekettet, nachdem er den Verstand verloren hat. Und Oberst Aureliano, der ansonsten in seinem Zimmer Goldfischchen herstellt, die er sofort vernichtet, nur um wieder von vorn anzufangen - dieser Oberst Aureliano verlässt sein Zimmer nur, um an dieser Kastanie seine Notdurft zu verrichten. "Was für eine Geschichte", sagt Rafael Darío. "Und was für ein Mann Gabo war." Einmal hat er ihn getroffen.
    Rafael Darío: "Ich hätte mir nie träumen lassen, García Márquez kennenzulernen, er schien mir immer so weit entfernt. Das Schöne war, dass er mich treffen wollte. Ein Bekannter hat das vermittelt, nachdem ich ihm auf der Buchmesse in Bogotá erzählt hatte, dass ich an einem Buch über Gabos Großvater schrieb. Ein paar Wochen später ein Anruf: Gabito will mit dir sprechen. Ich also hin. Ich weiß noch, wie er mich begrüßt hat: Hallo, mein Freund. Ich sagte: Hallo Meister. Und er: Nenn mich nicht Meister, sondern Gabo oder Gabito. Wir haben dann über meine Recherchen geredet, wie weit ich war, mit wem ich gesprochen hatte. Dann sagte er: Schreib doch erst mal eine Reportage. Und dann noch eine und noch eine und irgendwann hast du das Buch zusammen. Dann sagte er etwas, das ich nie vergessen werde: Solltest du mal nicht mehr wissen, weil dir Informationen fehlen, erlaube ich dir hiermit, sie zu erfinden, so wie ich es immer gemacht habe."
    El hombre: Gabo als private und öffentliche Person
    "Weißt du, ich habe weder ein Konzept davon, was Freundschaft ist, noch kann ich den Begriff definieren. Aber ich weiß noch, wie ich mal einen Freud verloren habe. Und ich sage dir: Wenn ich einen verliere, dann war er kein Freund. Entweder hat er sich in mir geirrt oder ich mich in ihm. Das hat es in meinem Leben sehr selten gegeben, man kann es an den Fingern einer Hand abzählen. Meine Freunde sind dieselben wie immer, alte Freude und neuere. Ich bin ihnen immer nah. Ich erlaube nicht, dass der Ruhm mir Zeit für jene nimmt, die zu meinen Freunden zählen."
    Dagmar Plötz: "Ja, wie würde ich ihn charakterisieren? Also, ich glaube, er ist ein sehr menschenfreundlicher und menschenfeindlicher Schriftsteller. Er hat tiefes Mitgefühl und tiefe Empathie für seine Figuren. Und ich glaube, im wirklichen Leben ist ihm das ein bisschen aberzogen worden durch die Berühmtheit, dass er nicht die Kraft und die Zeit hatte, sich all dieser Zuwendung zugewandt zuzuneigen. Und das meine ich, dass er den Kreis der Leute, mit denen er umging, klein halten wollte. Und am liebsten mit den ganzen alten Freunden, die er schon hatte, als er noch nicht berühmt war, also vor "100 Jahre Einsamkeit". Das ist ja bei ihm das Interessante, dass bei ihm ein hohes Maß an Geselligkeit diesem Gefühl der Einsamkeit gegenüberstand. Er arbeitete bis drei oder vier Uhr nachmittags, dann musste er aber die Freunde sehen. Das Eremitische gilt immer nur für ein paar Stunden am Tag."
    Dagmar Plötz - ein Vierteljahrhundert unterhielt die Münchnerin eine enge Beziehung zu Gabriel García Márquez - eine strikt literarische. Sie hat sechs Bücher des Schriftstellers übersetzt, ohne je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, weder persönlich noch am Telefon. Nur eine Faxnummer hatte Dagmar Plötz, an die sie Fragen schicken konnte. Die Antworten kamen umgehend, Gabriel García Márquez war zeitlebens ein disziplinierter Arbeiter. Aber sie waren stets knapp, sachlich, formlos, ohne Anrede, ohne Gruß.
    Dagmar Plötz: "Ja, ja, da stand dann immer nur Gabo drunter. Und das Datum. Das war schon seltsam, also am Anfang fand ich das seltsam. Aber nachdem ich mich mehr mit dem Autoren beschäftigt hatte und merkte, wie sehr ihm die Bude eingerannt wurde, habe ich das besser verstanden."
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