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Schriftsteller und Friedensnobelpreiträger non grata

In Liu Xiaobos erstem Buch in deutscher Sprache findet sich ein provokativer Essay mit dem Titel "Die Hintergründe des chinesischen Wirtschaftswunders". Hier analysiert der Autor akribisch und polemisch zugleich die Mechanismen des Turbokapitalismus in China.

Von Martin Zähringer | 09.09.2011
    Mutig benennt er die von ihm sogenannte Regierungsstrategie der Parteioligarchie. Da sieht das Wirtschaftswunder schlicht so aus:

    "Der Profit des schnellen Reichtums wird zunächst von der gesamten Partei auf ihre einzelnen Gruppierungen verteilt, der des Staates wird auf seine Seilschaften verteilt, und diese teilen sich den Kuchen zuletzt mit einigen einflussreichen, privilegierten Familien und Individuen."
    Des Weiteren erkennt Liu Xiaobo das neue Leitbild eines aggressiven Nationalismus, der von den eigentlichen Problemen ablenken soll, eine perverse Hingabe an materialistischen Luxus und Konsum bei den Nutznießern der Reformen, dazu eine konsequente Unterdrückung jedes politischen Dissenses und zuletzt die Bestechung der Intellektuellen durch Profitversprechen. Am Ende des Artikels ist dann zu lesen:

    "Macht, Kapital und Intellektuelle haben sich eine dreipolige Allianz des gegenseitigen Nutzens geschaffen, mit der sich die intellektuelle Elite in die vorderste Front der allgemeinen Gier nach Geld und Wohlstand eingereiht hat."

    Mit dieser dreipoligen Allianz ist auch der Gegner benannt, mit dem sich der unbeugsame Dissident kompromisslos angelegt hat. Macht, Kapital und Intellektuelle bezeichnen zugleich den thematischen Radius der Artikel, die Tienchi Martin-Liao ausgewählt hat. Die aus Taiwan stammende Publizistin und Philologin ist Vorsitzende des chinesischen P.E.N.. Sie ist zugleich Betreuerin einer Internetplattform mit dem Namen observechina.net, auf der auch Liu Xiaobo viel publiziert hatte. Tienchi kannte den Literaturwissenschaftler und politischen Publizisten also schon lange, als er im Jahr 2008 im Internet die Charta 08 in Umlauf brachte. Diese Charta beschreibt detailliert, wie sich oppositionelle Intellektuelle eine politische Umwälzung der Volksrepublik China vorstellen. Tienchi Martin-Liao sagt zur Stimmung damals:

    "Wir alle haben ein bisschen Angst gehabt und geahnt, das kann gefährlich sein. Ehrlich gesagt, wir haben alle gedacht, wenn mal was passiert, wenn er verhaftet wird, dann wird man ihm zwei bis drei Jahre geben. Das ist ehrlich gesagt zu verkraften. Also ich meine in China, als ein Autor, wenn man schon schreibt und kritisch schreibt, muss man mit allem rechnen."

    Liu Xiaobo wurde auch wirklich verhaftet und angeklagt. Aber er erhielt nicht zwei bis drei Jahre Gefängnis, sondern elf Jahre. In Liu Xiaobos Buch ist die Charta 08, ein Hauptbeweis der Anklage, im genauen Wortlaut nachzulesen. Und in den anderen ausgewählten Schriften analysiert der Autor die Missstände in China. Liu Xiaobo ist ein ungemein produktiver Autor. Er hat elf Bücher und eine Vielzahl an Artikeln geschrieben:

    "Und das sind ungefähr 800-900 Artikel, und nicht irgendwelche Artikel. Die meisten Artikel sind relativ lang und haben immer ein sehr gutes Thema oder Gedanken oder Beobachtungen, Analyse."

    Liu Xiaobos Analyse ist faktenreich und überzeugend. Überzeugend ist auch die Struktur, die die Herausgeberin für ihre Auswahl fand. Es gibt fünf Themenbereiche mit etwa je zehn Artikeln und Essays zu: Politik unter chinesischen Vorzeichen, China und die Welt, chinesische Kultur und Gesellschaft sowie dokumentarische Texte. Außerdem wurden auch einige Gedichte aufgenommen. Auf die Frage, ob dieser produktive und vielseitige Autor ein Kernthema hat, antwortet die Herausgeberin Tienchi Martin-Liao:

    "Das ist eigentlich das Verhältnis zwischen Macht und Intellektuellen. Die Intellektuellen sind alle einzukaufen, man kann die alle einkaufen, man kann die alle bestechen, man kann die alle in die Tasche stecken, in der Tradition. Und das hat er kritisiert, und das ist das zentrale Problem in China. Mao Tsetung und die Partei haben das Rückgrat der chinesischen Intellektuellen kaputt geschlagen."
    Das klingt natürlich böse. Auch ist die Herausgeberin Tienchi nicht immer ganz derselben Meinung wie ihr Autor. Denn wo Tienchi das völlig zerschlagene Rückgrat der Intellektuellen sieht, da sieht Liu Xiaobo selbst eine geistige Landschaft in posttotalitärer Zeit, die noch brachliegt. Gesucht sind also neue Werte. In Sachen Wirtschaft sucht der Autor im Westen, denn in China definiere nur ein nepotistisches Machtsystem die Wirtschaftspolitik:

    "Die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft geht zwar mit der Privatisierung und der Liberalisierung des Marktes einher, allerdings wird der Markt in diesem Fall nicht von Gesetzen, sondern von Macht kontrolliert. Macht ist der entscheidende Faktor für die Verteilung von Ressourcen; die Machtverteilung bestimmt, wie das Kapital verteilt wird."
    Bei der Suche nach diesen vermissten Gesetzen spielt – wie die Herausgeberin im Vorwort deutlich markiert - der Wirtschaftsliberale Friedrich von Hayek eine Rolle. Man erinnert sich: Hayek war der Meinung, der Begriff "sozial" sei inhaltsleer. Es gebe eigentlich keine soziale Frage, es gebe auch keine soziale Marktwirtschaft. Ob mit solchen neoliberalen Leitideen die Zukunft eines Milliardenvolkes zu gewinnen ist, ist sehr fraglich. Tienchi Martin-Liao reagiert auf meine Nachfrage zu diesem Punkt vorsichtig. Liu Xiaobo sei nicht so festgefahren in dieser Spur:

    "Sie nennen das Neoliberalismus. Gut, da muss man aber auch sehr genau definieren, welcher ist das. Aber Liu Xiaobo ist jemand, der sehr offen ist. Er ist offen für alle neuen Ideen und Gedanken und er sieht ja auch kritisch. Er ist ja auch nicht blind und denkt, alles ist gut im Westen."

    Dennoch ist bemerkenswert und etwas schade, dass in dieser Auswahl eine geistige Auseinandersetzung mit dem großen chinesischen Kanon weitgehend fehlt. Bei Mao Tsetung findet Liu Xiaobo ganz und gar nichts. Auch nicht bei Konfuzius, über den er einen kritischen Artikel geschrieben hat. Sein Titel: "Gestern herrenloser Hund, heute Wachhund". In diesem respektlosen Duktus beschreibt er Leben und Lehre des Konfuzius und findet auch hier zu einer markanten Spitze:
    "Allem, was Konfuzius sagt, fehlt die raumgreifende Weisheit, das einzige was er hat, ist Schläue, ein extremes Nützlichkeitsdenken, er ist aalglatt, er hat weder ästhetische Innerlichkeit und philosophische Tiefe noch eine noble Gesinnung und ein großes Herz."

    Auch "Die gegenwärtigen Intellektuellen und die chinesische Politik" ist ein Text voller Angriffslust und Polemik, der zeigt, wie sich das alte Verhältnis von Kaiser und Beamten bis in die heutige Zeit fortsetzt. Die Intellektuellen seien eben immer noch die Lakaien von Anderen und Konfuzius sei der geistige Kuppler in dieser Beziehung.
    Liu Xiaobos Texte zur aktuellen politischen Lage beschäftigen sich mit dem politischen Machtmissbrauch der Eliten.

    Über seine eigenen Visionen für China informiert ein Text mit dem Titel "Veränderung des Regimes durch Veränderung der Gesellschaft". Liu Xiaobo entwickelt hier einen Diskurs über politische Konkurrenz, nämlich die zwischen dem staatlichen System der Wirtschaftsreformen von oben und dem Engagement der Zivilgesellschaft, die Reformen von unten angestoßen hat. Er selbst sieht große Chancen in der Rechtsschutzbewegung der Zivilgesellschaft, und diese Chancen sieht auch Tienchi Martin-Liao:

    "Sie werden es nicht glauben, aber selbst Bauern heutzutage - wenn ihnen etwas passiert, wenn man ihnen ihr Land wegnimmt oder wenn man ihnen eine Fabrik direkt auf ihre Felder setzt und die ganzen Abwässer und chemisches Zeugs da rauslässt, versuchen ihre Rechte zu verteidigen. Dafür gab es ganz viele Beispiele in den letzten Jahren."

    Die Bauern und Arbeiter können sich, wie Tienchi selbst berichtet, bei ihren Protesten und Aktionen auch auf die Hilfe von Intellektuellen verlassen. Sie bilden einen entscheidenden Teil der Rechtsschutzbewegung, und vielleicht ist damit Liu Xiaobos scharfe Kritik an den Intellektuellen etwas relativiert. Es muss schwierig sein, seinen hohen Ansprüchen zu genügen. Hier benennt er universale Werte:
    "Anders gesagt, die treibende Kraft für die spontanen Reformen der Zivilgesellschaft erwuchs aus der Logik der menschlichen Natur, die sich nach Freiheit und Gerechtigkeit sehnt."

    Leider widersprechen dieser angeblichen Logik der menschlichen Natur Liu Xiaobos eigene Beobachtungen über die Situation in China. Denn dort findet der Kulturpessimist Liu Xiaobo keine idealistische Jugend auf der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit, sondern eine Elite der Zukunft, die ihre persönliche Freiheit de facto zwar beansprucht - zum Beispiel per Studium in den USA - um dann später aber doch eine Karriere im System der KP China zu wählen. Liu Xiaobo beklagt vor allem, dass diese Jugend den Widerspruch gar nicht mehr erkennen könne. In seiner Medienkritik mit dem Titel " Die Orgie" beschreibt er eine allgemeine Dekadenz der Kommerzkultur:

    "Nebenfrauen, Prostituierte, Seitensprünge, One-Night-Stands und dergleichen erotisches Durcheinander entsprechen den Orgien, wie sie von den Produkten der Kommerzkultur vorgeführt werden. Und so wurde aus der ehemaligen Begeisterung für politische Reformen die heutige Anbetung von Reichtum und sexuellen Ausschweifungen."

    Der Essay "Die Orgie" ist zwar etwas moralistisch, aber ein beachtlicher kulturkritischer Rundumschlag. Auch die anderen Texte dieser Auswahl sind Musterstücke kritischer Intervention. Wenn Liu Xiaobo die Vorgänge um die Kindersklaven in illegalen Ziegelfabriken beschreibt, dann ist das Beste investigative Reportage. Auch die politische Analyse ist auf hohem Niveau. Liu Xiaobo wird aber nicht nur wegen der Feindschaft der KP Probleme haben, in China gehört zu werden. An den Anfang hat die Herausgeberin bewusst einen Text zu den Müttern vom Tienanmen gesetzt. Das Massaker am Tienanmen war auch für Liu Xiaobo eine Urszene der politischen Meinungsbildung. Sie war zugleich der Beginn seines konsequenten Weges als politischer Dissident, und seine gesamte Gesellschafts- und Zeitkritik bezieht ihren moralischen Grund aus dieser politischen Urszene. Aber der 4. Juni 1989 unterliegt im heutigen China einem kollektiven Tabu, einem Schweigen, das leider nicht nur erzwungen ist. Der Konsumrausch hat wirklich eine bestechende Wirkung, und so siegt vorläufig die materialistische Strategie der KP China über die hohen Ideale ihres Gegners Liu Xiaobo.

    Liu Xiaobo: "Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass". Ausgewählte Schriften und Gedichte. Aus dem Chinesischen von Karin Betz und Hans Peter Hoffmann. Herausgegeben von Tienchi Martin-Liao und Liu Xia. Vorwort von Vaclav Havel. S. Fischer, 411 Seiten, 24,95 Euro