Freitag, 29. März 2024

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Schriftstellerin Jagoda Marinic über Sexismus
"Deutschland verschläft #MeToo"

Stellt die #MeToo-Debatte einen echten Wendepunkt für die Frauen dar? Hat sie Einstellungen und Verhaltensweisen geändert? Die Schriftstellerin Jagoda Marinic fürchtet, dass Deutschland - im Gegensatz zu den USA - die Chance einer grundlegenden Debatte verpasst hat.

Jagoda Marinic im Gespräch mit Änne Seidel | 17.08.2019
Demonstration gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Übergriffe am 28.10.2017 in Berlin Neukölln
Protestschild mit dem Hashtag MeToo gegen sexualisierte Gewalt und sexistische Übergriffe (imago images / Bildgehege)
Für Jagoda Marinic ist #MeToo eine Chance, den Kampf um Geschlechtergleichheit voranzubringen. Allerdings scheine Deutschland, im Gegensatz zu den USA, diese Chance zu verschlafen. Nur ganz wenige Fälle seien hierzulande überhaupt bekannt geworden, man komme auf kaum mehr als vier oder fünf Namen. In den USA seien es um die 250 Personen, und für die habe es radikale Konsequenzen gegeben. Sie mussten Führungspositionen aufgeben. Eine Studie der Universität Colorado habe kürzlich gezeigt, dass Frauen seltener Erlebnisse mit Übergriffen hätten.
"I confess"
Im Gegensatz zu Deutschland gebe es in den USA eine gesellschaftliche und literarische Tradition des "Ich bekenne", also eine Erfahrung oder politische Einstellung als Individuum offen zu präsentieren. Addiert mit einer Opfererfahrung, sei es ethnische oder sexuelle Diskriminierung, erfahre das eine andere Würdigung als in Deutschland. Deshalb hätten sich mit #MeToo so viele solidarisiert, zum Beispiel die Frauen bei der Oscar-Verleihung, die in schwarzer Kleidung kamen. In Deutschland dagegen fehle oft der Mut, Vorfälle und Namen zu benennen. So habe es zunächst keine Solidarisierung gegeben, als die Schriftstellerin Charlotte Roche einen Fall öffentlich machte.
"Neue autoritäre Männer"
Jagoda Marinic will #MeToo nicht überhöhen: Schließlich habe es trotz eindeutiger Übergriffe kein Impeachment-Verfahren gegen Präsident Donald Trump gegeben. Andererseits habe er einen Stein ins Rollen gebracht. Frauen seien sich bewusst geworden, dass jetzt die Normalisierung von sexueller Gewalt drohe durch "neue autoritäre Männer, die despektierlich mit Homosexuellen, mit Frauen umgehen". Die Bewegung jetzt zu nutzen, sei eine Jahrhundertchance.
Auf die Frage, welche Wendepunkte die Frauenbewegung in ihrer Geschichte nachhaltig gestärkt haben, nannte Jagoda Marinic das Wahlrecht und die Gesetzesänderungen im 20. Jahrhundert. Dass vor gar nicht allzu langer Zeit Frauen noch die Erlaubnis ihres Mannes brauchten, um arbeiten zu gehen oder dass Vergewaltigung in der Ehe legal war, erscheine unglaublich. Andererseits sei es auch ein gutes Zeichen, dass das alles heute nur noch absurd wirke.
Die Autorin Jagoda Marinic.
Die Autorin Jagoda Marinic. (imago / ZUMA Press / Sachelle Babbar)
Jagoda Marinic wurde 1977 geboren. Ihr erstes Buch "Eigentlich ein Heiratsantrag" veröffentlichte sie 2003, zwei Jahre später erschien ein weiterer Band mit Erzählungen, "Russische Bücher", für den sie den Grimmelshausen-Förderpreis bekam. Bald folgte der Roman "Die Namenlose". Marinic schreibt auch fürs Theater. In diesem Jahr erschien ihr Buch "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.