Freitag, 29. März 2024

Archiv

Schriftstellerin Undinė Radzevičiūtė
"Politik interessiert mich nicht"

Die Schriftstellerin Undinė Radzevičiūtė brennt mehr für China und Kreuzritter als für die Gegenwartsthemen Litauens. Ihr Roman "Fische und Drachen" ist eines der Bücher aus dem diesjährigen Gastland, die nach der Leipziger Buchmesse übersetzt wurden. Treffen mit einer bewusst unzeitgemäßen Autorin.

Von Holger Heimann | 08.09.2017
    Die Schriftstellerin Undiné Radzevičiūtė und das moderne Vilnius
    Drinnen und zugleich draußen: Die Schriftstellerin Undiné Radzevičiūtė wohnt zwar in Vilnius, aber in ihrer Literatur verfolgt sie andere Themen als die typischen Gegenwartsfragen Litauens (Residenz Verlag/Agnė Gintalaitė u.imago/Westend61 )
    Die litauische Gegenwartliteratur wird von zwei Themen dominiert: dem schwierigen Verhältnis zu Russland und den Jahren der Transformation seit der Unabhängigkeit 1990. Die 50-jährige Undinė Radzevičiūtė will jedoch von derlei vermeintlicher Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz nichts wissen. Sie ist allein deshalb eine Ausnahme unter den litauischen Schriftstellern. "Politik interessiert mich nicht", sagt sie offen.
    Um litauisch-russische Befindlichkeiten kümmert sie sich nicht im Mindesten. Ein Hauptstrang ihres ins Deutsche übersetzten Romans "Fische und Drachen" führt vielmehr in das China des 18. Jahrhunderts und verfolgt den Lebensweg des Jesuiten und Malers Giuseppe Castiglione. Der Italiener kommt als Missionar nach Peking und entfernt sich – fasziniert von der fremden Kultur – immer weiter von seiner europäischen Vergangenheit:
    "Castiglione brauchte 50 Jahre, um zu begreifen: Einen Einfluss in China werden weder die Portugiesen noch die Franzosen haben. Die chinesische Kultur ist wie ein poröser Schwamm: Sie saugt alles Neue auf und verändert sich dadurch überhaupt nicht. Und sie saugt nicht nur alles Neue auf, sondern auch die Menschen, die hierherkommen."
    Chinesische Begutachtung eines iberischen Pferdes
    Radzevičiūtė hat ihren Grenzgänger zwischen den Kulturen nicht erfunden. Giuseppe Castiglione gab es wirklich. Der Italiener war über 50 Jahre unter drei Kaisern als Hofmaler in Peking. Dort verschmolz er Elemente der europäischen und chinesischen Malerei zu einem eigenen Stil. Doch der Weg zu solch einer Synthese war beschwerlich. Radzevičiūtė hat die mühevolle, von Irrtümern begleitete Annäherung in einer ganzen Reihe von häufig humorvollen Szenen festgehalten:
    "Die Kommission zweifelt schon wieder lange an seinen Pferden. Einige Mitglieder der Kommission kneifen erst das eine, dann das andere Auge zu. Einige strecken ihre Zunge spitz vor, als versuchten sie, diese Pferde abzulecken. Von Weitem. Einige stülpen ihre Unterlippe auf, einige schielen mit zusammengekniffenen Augen, einige blasen ihre Backen auf. Den Mitgliedern der Kommission scheint: Die Köpfe der Pferde sind zu klein und ihre Fesseln zu schlank. Die Erklärung, das seien iberische Pferde und diese müssten genau so sein, fruchtet nichts."
    Mit Castigliones China-Erfahrung lose verflochten ist eine zweite Erzählung rund um den traurig-skurrilen Alltag von vier Frauen, die sich in einem von Chinesen dominierten Viertel einer modernen europäischen Großstadt eine Wohnung teilen. In absurd-komischen Wortgefechten, die Cornelius Hell glänzend ins Deutsche gebracht hat, wird die fragile Familiengemeinschaft immer wieder auf die Probe gestellt. Keine der Frauen behält dauerhaft die Oberhand. Klar ist nur:
    "Familienleben – das ist ein ständiges Zusammensein mit denselben Menschen. Ein Dasein, das man meist nicht ertragen kann, doch wenn man irgendetwas zu ändern versucht, kommt es zu einem Durcheinander, das in einen rücksichtslosen Kampf umschlägt."
    Die Mutter ist nicht ihre Mutter
    Dieses Durcheinander bestimmt den eigenwilligen Drei-Generationen-Haushalt. Während die Großmutter verzweifelt um ihre schwächer werdende Stellung kämpft, versucht die Mutter vergeblich als Autorin erotischer Krimis zu reüssieren. Die beiden ungleichen Töchter streben derweil nach Unabhängigkeit. Die ausgefallene Familienkonstellation führt zu immer neuen Verwicklungen und Missverständnissen – und weist so auf Castigliones Erfahrungen zurück.
    Undine Radzevičiūtė hat sich auch für den zweiten Erzählstrang an realen Vorbildern orientiert – ohne dies jedoch im Roman explizit zu machen:
    "Meine Mutter hat das Manuskript gelesen und mich gebeten, es nicht zu veröffentlichen – mit der Bemerkung: 'Jeder wird denken, dass ich das bin.' Und sie hat nicht ganz unrecht. Die Figuren der vier Frauen ähneln Menschen, die ich gekannt habe. Jede einzelne Frau hat Eigenschaften von verschiedenen Menschen. Und natürlich hat jeder Charakter immer auch etwas vom Autor selbst."
    "Fische und Drachen" ist Undinė Radzevičiūtės dritter Roman. Debütiert hat sie erst mit 35 Jahren. Zuvor war sie zehn Jahre als Texterin und Art Director bei internationalen Werbeagenturen, wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett, beschäftigt. Radzevičiūtės Stil wurde von der früheren Berufserfahrung deutlich geprägt. Sie schreibt kurze Sätze, pointierte Dialoge und funkelnde Miniaturen.
    "Ich bin keine Litauerin"
    Explizit litauisch ist an diesem Buch vordergründig jedoch gar nichts. Und Radzevičiūtė legt auch keinerlei Wert darauf, als litauische Schriftstellerin betrachtet zu werden:
    "Ich bin keine Litauerin. Die Familie meiner Mutter kommt aus Kurland, das ist eine Region in Lettland (*), die stark von deutscher Kultur geprägt wurde. Mein Vater hat polnische Wurzeln. Man lebt dort, wo der Kopf ist. Wenn mein Kopf in China oder im Mittelalter ist, dann bin ich dort."
    Unerheblich ist die Vilniuser Gegenwart für die exzentrische Autorin aber keineswegs. Als sie "Fische und Drachen" schrieb, lebte sie im chinesisch geprägten Viertel der Vilniuser Neustadt, in Naujamiestis – nicht weit von der pittoresken Altstadt und doch in einer anderen Welt. Auf den Spuren des Romans ist Undinė Radzevičiūtė noch einmal zu dem Innenhof zurückgekehrt, der auf der einen Seite von ihrem früheren Wohnhaus, auf der anderen von einem Chinarestaurant eingefasst wird:
    "Von meinem Fenster schaute ich auf den Innenhof und sah jeden Tag die benachbarten Chinesen. Einmal spielte der Küchenchef auf einer Flöte, es war zauberhaft. Und immer gab es reichlich Essen und deshalb waren stets viele Katzen da, bis sie eines Tages verschwanden. Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist."
    Undinė Radzevičiūtė ist eine der wenigen litauischen Schriftstellerinnen, die sich ganz aufs Schreiben konzentriert. Die Einkünfte aus ihrem Roman, der in acht Sprachen übersetzt wurde, seien ausreichend. Während andere Autoren ihren Lebensunterhalt notgedrungen mit journalistischen Arbeiten oder mit Lehrtätigkeiten an der Universität verdienen, sitzt Undinė Radzevičiūtė schon an einem neuen Buch, einem historischen Roman über Kreuzritter. Sie bleibt sich und ihrer Ausnahmestellung treu.
    (*) Anmerkung der Redaktion: In einer ursprünglichen Textversion hieß es fälschlicherweise Estland. Die Audioversion wurde nicht verbessert.
    Undinė Radzevičiūtė: "Fische und Drachen"
    Aus dem Litauischen von Cornelius Hell
    Residenz Verlag: Salzburg 2017, 400 Seiten, 24 Euro.