Donnerstag, 25. April 2024

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Schülerfahrten nach Auschwitz
Lernziel "Geschichtsbewusstsein"

Besuche von Schulklassen in KZ-Gedenkstätten trügen dazu dabei, den Holocaust als Tatsache wahrzunehmen, sagte der Historiker Christian Kuchler im Dlf. Die Erwartung, dass diese Besuche gegen Antisemitismus oder Rassismus immunisieren, sei aber "zu hoch gegriffen". Ziel historischen Lernens sei etwas anderes.

Christian Kuchler im Gespräch mit Thekla Jahn | 27.01.2021
Eine Schulklasse aus Krefeld besucht am 26.01.2013 das KZ Auschwitz-Birkenau. Am 27. Januar wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Das Erinnern an den Schrecken - für viele Zeitzeugen eine Lebensaufgabe. Doch ihre Zahl schrumpft von Jahr zu Jahr. Foto: Eva Krafczyk (zur dpa-Reportage: "Erinnerung für Auschwitz-Überlebende ein Lebensziel") ++
Schüler bei einem Besuch des früheren deutschen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau (picture alliance / dpa | Eva Krafczyk)
Selbst aktiv daran beteiligt sein, dass das Wissen um den Holocaust nicht verloren geht, das immunisiert möglicherweise am besten gegen Antisemitismus. Aber auch die Orte des Grauens aufzusuchen, sich ehemalige Konzentrationslager anzuschauen, das wirkt nachhaltig. Das zumindest erhofft sich zum Beispiel die Stiftung Erinnern Ermöglichen, die vor zehn Jahren gegründet wurde. Sie hat Hunderte Gruppenreise für Schülerinnen und Schüler aus Nordrhein-Westfalen finanziert, um möglichst jedem den Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu ermöglichen.
Eine Hand hält in den Räumen des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes (ITS) im nordhessischen Bad Arolsen Häftlingskarten und weitere Dokumente eines Zwangsarbeiters (Archivbild vom 25.11.2004). Um die oft erschütternden Dokumente für die kommenden Generationen zu erhalten, hat die Restaurierung der vom Verfall bedrohten Akten begonnen. Der ITS verwaltet 47 Millionen Dokumente mit Hinweisen auf 17 Millionen Opfer des NS-Regimes. Jährlich sollen in einer Spezialmaschine rund 200 000 Dokumente entsäuert und entlaminiert werden, sagt ITS-Archivverwalter Udo Joos. Foto: Uwe Zucchi dpa/lhe (zu lhe Korr-Bericht "Kriegspapier zerfällt: Zwangsarbeiter-Archiv wird restauriert" vom 13.12.) +++(c) dpa - Report+++
Erinnern an den Holocaust - Mitbauen am digitalen Shoah-Denkmal
Deportationslisten, Vermerke über Todesmärsche und Häftlings-Personal-Karten: Die Arolsen Archives haben über Jahrzehnte Millionen Dokumente zum Holocaust gesammelt. Nun gilt es diese zu digitalisieren. Mitmachen kann jeder.
Was geschieht bei diesen Besuchen mit den Jugendlichen? Der Historiker und Geschichtsdidaktiker Professor Christian Kuchler von der RWTH Aachen hat sich damit näher beschäftigt und Exkursionsberichte ausgewertet. Im Interview mit dem Dlf berichtet er, wie junge Besucher den Besuch in Auschwitz erleben - und er betont, dass die Besuche gut vor- und nachbereitet werden sollten.
Thekla Jahn: Die Wirkung schulischer Reisen zu Gedenkstätten wird kontrovers diskutiert. Zu welchem Ergebnis kommen Sie, was bringen sie für ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein der Schülerinnen und Schüler?
Christian Kuchler: Die gesellschaftliche Vorstellung, dass solche Fahrten wirklich immunisieren gegen Antisemitismus oder gegen Rassismus, glaube ich, sind deutlich zu hoch gegriffen. Sie bringen allerdings sehr viel hinsichtlich eines Wahrnehmens der Tatsächlichkeit des Holocaust. Viele Schüler sagen oder schreiben in ihren Berichten, dass sie durch den Besuch vor Ort eben wahrgenommen haben, dass das, was sie im Geschichtsunterricht gelernt oder im Geschichtsbuch gelesen haben, eben wirklich und tatsächlich stattgefunden hat.

"Eine ziemliche Überwältigung"

Jahn: Was berührt denn Schülerinnen und Schüler am meisten, wenn sie eine Gedenkstätte besuchen?
Kuchler: Ich hab das ja in erster Linie am Beispiel von Auschwitz-Birkenau untersucht, und dort lässt sich sagen, dass es zum einen die schiere Dimension, die schiere Größe dieses Geländes ist, dass man schon an der Größe des Areals sehen kann, welche Größe das Verbrechen, das dahintersteht oder das dort stattgefunden hat, angenommen hat. Zum anderen beeindruckt die Schüler die Perspektive, dass sie eben diesem Ort eine gewisse Permanenz abgewinnen können, dass der eben immer noch an der Stelle ist.
Viele schreiben davon, dass sie mit jedem Schritt, den sie getan haben, einfach mit sich gerungen haben, weil sie immer wieder daran gedacht haben, dass an dem Ort, wo sie gerade stehen, oder an dem Fleck, den sie gleich betreten, schwere Verbrechen passiert sind, und setzen es eben mit ihrer eigenen Gegenwart in Vergleich. Zuletzt sind es natürlich auch die sehr bekannten letzten Habseligkeiten der Opfer aus Birkenau, beispielsweise die Schuhe, die Koffer, die diesen Opfern abgenommen worden sind und die heute wieder prominent im Stammlager ausgestellt sind. Die sind aber so, dass man da wirklich sagen muss, dass es schon eine ziemliche Überwältigung ist, die den Schülern da zugemutet wird und die sie auch schon sehr schwer nur verdauen können.
Jahn: Wir sprechen jetzt von empathischen Reaktionen, aber Reaktionen sind so unterschiedlich wie die Menschen. Manche machen Selfies, die sie über die sozialen Medien verschicken – ich war hier, im KZ –, manchmal ist das irritierend. Was wissen Sie über diese Schülerinnen und Schüler, die nicht so empathisch sind?
Kuchler: Es gibt auch Schülerinnen und Schüler, die ganz offen und ehrlich sagen, dass für sie diese Fahrt keinen großen Ertrag gezeitigt hat. Das sind relativ wenige – ich hab ja handschriftliche Dokumentationen, die dann später an die Stiftung Erinnerung Ermöglichen weitergegeben worden sind, ausgewertet –, die dort aber auch wirklich schreiben, dass ihnen beispielsweise auf dem Areal nichts Ungewöhnliches vorgekommen sei und man ja dort ohnehin gerade so auf Aschewiese, auf denen man steht wie auf einer normalen Wiese, wo ein Schüler schreibt, er habe für sich jetzt nichts wahrnehmen können und man hätte ihn auch auf jede andere Wiese stellen können. Das ist sicherlich ein Punkt, der gerade bei allen Gedenkstättenbesuchen eine echte Herausforderung darstellt, dass es eben kein touristischer Tagesausflug ist oder ein Wandertag, sondern dass es eben ganz bewusst auch in den Geschichtsunterricht eingebettet sein muss, dass der Besuch sehr gut vorbereitet und auch gut nachbereitet sein sollte.

Hologramme als Ersatz für Zeitzeugen?

Jahn: Ganz wichtig beim Gedenken ist ja immer auch gewesen, mit Zeitzeugen sprechen zu können, zu merken, was diese Menschen erlebt haben, dass sie möglicherweise ins Stocken kommen, plötzlich Flackern im Blick haben, Seufzen bei der Erinnerung und man dadurch das Schreckliche möglicherweise ein bisschen erfassen kann, was diese Menschen erlebt haben. Die wenigen verbliebenen Zeitzeugen werden in den nächsten Jahren verstummen – wie kann man diese persönliche Betroffenheit ersetzen?
Kuchler: Das, was Sie beschreiben, spiegelt sich auch in den Berichten. Sehr viele der Klassen haben Zeitzeugen getroffen und beschreiben das immer als einen der Höhepunkte ihrer Besuche in der Gedenkstätte. In der Kombination, die Gedenkstätte eben mit Zeitzeuge oder mit Zeitzeugen-Gespräch zu besuchen, war das sicherlich ein sehr bereicherndes Element. Jetzt wird es dann wohl so sein, wenn diese Zeitzeugen endgültig verstummen, dass auch die medialen Überlegungen hinsichtlich der Schaffung von Hologrammen hier vielleicht auch ein Impuls sein können.
Jahn: Hologramme also, digitalisierte Zeitzeugen, die sprechen können, das kann natürlich kein Ersatz sein, weil keine wirkliche Kommunikation möglich ist.
Kuchler: Richtig. Die Hologramme sind sicherlich immer problematisch, weil sie ja nur aufgenommen worden sind, aber es ist ein Versuch, eben diese Zeitzeugen, in Anführungsstrichen, "am Leben zu erhalten". Das ist sehr ähnlich auch bei den historischen Orten, dass man die gerade jetzt in der Pandemiezeit nicht besuchen kann oder aus anderen Gründen nicht nach Auschwitz oder zu einer anderen Gedenkstätte fahren kann. Es gibt ja Angebote mit Virtual Reality, diese Orte sozusagen virtuell oder in 3D zu besuchen. Diese Angebote habe ich auch versucht zu untersuchen, hab aber von den Schülern sehr eindeutige Rückmeldungen bekommen, und zwar sowohl von den Schülern, die schon an einer Gedenkstätte waren, als auch von Schülern, die nicht dort waren, dass sie sich alle eigentlich wünschen, lieber diesen historischen Ort persönlich kennenlernen zu können und erkunden zu können, als nur auf dieses digitale Format verwiesen zu sein.

Angst vor der Gedenkstätte

Jahn: Die Digitalität zieht natürlich auch in der Geschichtsdidaktik, also der Vermittlung historischer Ereignisse ein. Welche Rolle werden virtuelle Realität und digitale Möglichkeiten in Zukunft spielen?
Kuchler: Sie werden als Ergänzungsmittel eingesetzt werden. Beispielsweise schreiben sehr viele Schüler am Beginn ihrer Reise, dass sie Angst davor haben, was ihnen in Oswiecim, also in der Gedenkstätte begegnen wird. Dem ließe sich meines Erachtens hervorragend entgegenwirken mit Virtual Reality. Wenn ich nämlich nicht nur die Bilder im Kopf habe, die ich aus "Schindlers Liste" oder aus anderen Spielfilmen über Auschwitz habe, sondern wenn ich auch mir über diese digitalen 360-Grad-Filme beispielsweise einen Einblick erarbeiten kann, was eine Gedenkstätte eigentlich ist, dass dort ein museal überformter Raum vorhanden ist und dass ich eben nicht in das Horrorszenario der 40er-Jahre zurückkehre, dann habe ich vielleicht auch unter Umständen weit weniger Angst und bin wesentlich zuversichtlicher und glaube, dass ich keine so großen emotionalen und persönlichen Herausforderungen entgegentrete, wenn ich eben nach Auschwitz fahre.
Jahn: Wenn wir heute am Holocaust-Gedenktag darüber nachdenken: Worum geht es beim historischen Lernen, was ist das Ziel?
Kuchler: Beim historischen Lernen geht es darum, dass man, speziell wenn man den Blick auf den Nationalsozialismus lenkt, nicht nur ein schablonenhaftes Abspielen von politisch gewünschten Antworten bekommt, sondern dass man Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit gibt, wirklich eigenständige Urteile zu fällen, sich mit der Vergangenheit auf Basis historischer Quellen vertiefend zu beschäftigen und daraus eine eigene Narration von Geschichte zu formulieren. Das heißt, dass sie eben kritisch und konstruktiv mit Informationen umgehen können und damit ein Geschichtsbewusstsein entwickeln, das es ihnen möglich macht, als aktive und kritische Bürger an unserer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.