Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Schulabbrecher in Italien
Geld verdienen statt pauken

Italien ist das Land in der EU mit den meisten Schulabbrechern unter 16 Jahren - Tendenz steigend. Bildungspolitiker gehen das Problem allerdings nur halbherzig an - anstatt sich den Ursachen zu widmen, wollen sie jetzt erstmal die Schulpflicht auf 18 Jahre anheben.

Von Thomas Migge | 18.09.2018
    Blick über die Stadt und den Golf von Neapel
    Besonders hoch ist die Quote in der Stadt Neapel - aber in ganz Italien brechen viele Jugendliche die Schule ab (picture alliance / Zumapress)
    "Seit ich 14 bin gehe ich nicht mehr zu Schule. Ich verdiene mir jetzt mein Geld, mit Drogenhandel, kleinen Diebstählen und ich war auch schon mal kurz im Knast."
    Gaetano ist fast 16 Jahre alt. Er lebt in Scampia, dem heruntergekommensten Stadtviertel Neapels. Hier regiert die Camorra. Auch Gennaro, 13 wohnt hier: "Hier gibt es doch sonst keine Arbeit, gar nichts gibt’s hier. Normale Jobs: da gibt es höchstens 50 oder 60 Euro die Woche."
    Auf den Hinweis, dass sie doch eigentlich die Schulbank drücken müssten, lachen die Jungs. Dann schwingen sie sich auf ein Moped, gleich drei auf einmal, und sausen davon, Geld verdienen, wie sie beim Abschied rufen:
    Italien hat wie alle EU-Staaten eine Schulpflicht über deren Einhaltung das Bildungsministerium wacht. Theoretisch jedenfalls. Tatsache ist, dass vor allem in Süditalien in zahllosen Fällen niemand kontrolliert, ob Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren auch tatsächlich regelmäßig den Schulunterricht frequentieren.
    Italien und seine Schulpflicht: ein bildungspolitisches Drama, klagt Raffaella Milano, Direktorin von "Save the Children Italia", einer privaten Kinderschutzorganisation, die in Italien an vorderster Front die Schulflucht zu bekämpfen versucht:
    "Die Daten sind leider wirklich alarmierend. Italien ist das europäischen Schlusslicht in Sachen regelmäßigem Schulbesuch. Rund 17 Prozent aller Schüler, von der Grundschule bis zum Gymnasium, brechen die Schule ab bevor sie 16 Jahre alt sind. Diese Realität fügt dem Staat großen Schaden zu."
    Besonders Neapel ist betroffen
    Einer aktuellen Studie des Bildungsministeriums zum Thema Schulabbrecher zufolge kostet jeder Schüler den Staat jährlich rund 7000 Euro. In den vergangenen 20 Jahren brachen zirka vier Millionen Schüler unter 16 Jahren die Schule ab. Jeder vierte Gymnasiast unter 16 Jahren verlässt vorzeitig die Schule. Am meisten von der Schulflucht betroffen ist die Großstadt Neapel. Gefolgt von Palermo auf Sizilien.
    Auch Gino geht nicht immer zu Schule. Der 15-Jährige wohnt im neapolitanischen Viertel Posilippo. Seine Eltern sind arbeitslos und drogenabhängig. Deshalb muss er arbeiten gehen. Wir treffen ihn in einem Klassenraum seiner Mittelschule:
    "Leider ist es schwierig hier immer am Unterricht teilzunehmen. Wer wie ich arbeiten gehen muss, kann nicht oft zur Schule gehen."
    Carla Visentini, Lehrerin an der Schule von Gino, gibt zu, dass sie junge Leute wie den 15-Jährigen in gewisser Weise verstehen kann:
    "Solange diese jungen Leute, die die Schulpflicht verletzen, einer geregelten Arbeit nachgehen, will ich ja nichts sagen. Viele müssen das tun, um ihre Familien finanziell über Wasser zu halten. Wichtig ist nur, dass sie ihr Geld legal verdienen."
    Schulpflicht auf 18 anheben?
    Die Kontrolleure des Bildungsministeriums sind heillos überlastet. Die Polizei, die in besonders gravierenden Fällen die Schüler zu Hause abholen und in die Schule bringen muss, hat für solche Einsätze keine Zeit, weil die alltägliche Kriminalität ihren ganzen Einsatz fordert.
    Umfragen zufolge sind rund 40 Prozent aller Italiener angesichts der gravierenden sozialen Probleme gerade Süditaliens davon überzeugt, dass man die Schulpflicht von 16 oder 14 Jahre reduzieren sollte. So denkt auch Maria Monti, ehemalige Rektorin eines Gymnasiums am römischen Stadtrand:
    "Man sollte jenen, die nicht an Schulen weiterlernen wollen, die Möglichkeit geben, einen Beruf zu ergreifen."
    Das Bildungsministerium denkt anders. Es will noch in diesem Jahr angesichts der steigenden Schulabbrecherquote die Schulpflicht anheben: von 16 auf 18 Jahre. Solange aber schon die Einhaltung der bisherigen Schulpflicht in keiner Weise garantiert werden kann, vor allem in Süditalien, ist diese Idee Augenwischerei, die von eigentlichen Problemen ablenkt.