Freitag, 29. März 2024


Schulalltag auf Boipeba

Die Proteste im Juni in Brasilien zielten auch auf das marode Bildungssystem ab: Es gibt zu wenig Lehrer, sie sind zu schlecht bezahlt. Auch auf Boipeba ist Bildung ein Dauer-Thema. Unser Blogteam - Jörg-Christian Schillmöller und Dirk Gebhardt - hat die Dorf-Schule besucht.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt | 02.08.2013
    Es ist 13 Uhr, ein klarer sonniger Tag auf der Insel - und wir dürfen spontan die Schule am Dorfplatz besuchen, ein fast neues Gebäude in orange und blau mit silbernen Lettern: "COLEGIO MUNICIPAL DE BOIPEBA - HILDÉCIO ANTÒNIO MEIRELES".
    "Sala 01" liegt gleich rechts neben dem Eingangstor, das außerhalb der Pausen mit einem Vorhängeschloss abgesperrt wird. Drinnen sitzen 15 Schülerinnen und zehn Schüler, zwei Ventilatoren blasen Luft von rechts und links durch den Raum. Die Jugendlichen sitzen auf Stühlen, an deren Lehne ein kleiner Tisch hochgeklappt werden kann.

    Vorne steht Irailde de Jesus Santana und hält Frontalunterricht über portugiesische Grammatik. Irailde spricht sehr laut (aber sehr anschaulich) über Satzbau und Wortarten. Sie schreibt "articulo, substantivo, verbo, adjetivo" an die Tafel - und Sätze wie "Josiane foi no cinema com Paulo", Josiane war mit Paul im Kino.

    Schulalltag auf Boipeba. Gegenüber von "Sala 01" hat Diotilia Rangel ihr kleines Büro, dessen winzige Fenster so hoch liegen, das man nicht hinaussehen kann. Diotilia Rangel ist Verwaltungsdirektorin, eine freundliche Dame gehobenen Alters. Viele Jahre lang hat sie in der Hauptstadt Brasilia unterrichtet. Für den Ruhestand ist sie zurückgekehrt nach Bahia - aber aus der Ruhe wurde nichts: "Die Stelle an der Schule in Boipeba konnte ich einfach nicht ablehnen." Sie lacht.


    750 Schüler und 35 Lehrer zählt das Colegio. Die Lehrer sind nach den Worten der Direktorin tatsächlich zu schlecht bezahlt - eines der größten Probleme der Bildung in Brasilien (und einer der Gründe für die Proteste im Juni). Für eine 40-Stunden-Woche an der Schule auf Boipeba bekommt ein Lehrer 1800 Reais im Monat, gut 600 Euro.
    Eine Gruppe von Schülern, die gerade interviewt werden
    Interview mit Schülern der Dorfschule in Boipeba (Dirk Gbehardt)
    "Das reicht vielen nicht für den Lebensunterhalt, und darum suchen sich die meisten einen oder mehrere Nebenjobs", sagt Diotilia Rangel. Für Boipeba ist das ein Problem: Der größte Teil der Lehrer wohnt nicht auf der Insel, sondern kommt jeden Tag mit dem Schnellboot aus Valença auf dem Festland. Dort gibt es die Nebenjobs, die das Gehalt aufbessern. "Unsere Lehrer sind nicht schlecht qualifiziert", erzählt die Direktorin, "aber weil sie morgens herkommen und abends wieder fahren, sind sie nicht sehr verwurzelt auf der Insel."

    Für Maileidi gilt das nicht: Sie hat auf dem Festland Pädagogik studiert, unterrichtet Geschichte und wohnt auf Boipeba. Für 14 Wochenstunden erhält sie 1000 Reais (knapp 400 Euro) - und verdient sich darüber hinaus noch Geld als Sozialarbeiterin. "Damit komme ich dann hin", sagt sie. Die Proteste im Juni hält sie für gerechtfertigt: "Die Bildung muss in ganz Brasilien besser werden, dafür muss die Politik mehr Willen zeigen. Und die Eltern müssen mehr in die Erziehung eingebunden werden." Ist sie mit der Bildung auf Boipeba zufrieden? "Auch hier muss es noch besser werden", sagt sie.



    Ein paar Fakten. Das Colegio von Boipeba wird im Herbst auf Ganztags umgestellt. Zurzeit haben die Schüler entweder vor- oder nachmittags Unterricht (und an zwei Wochentagen bereits beides). Gegessen wird in der Schulkantine. Dort gibt es die klassischen Gerichte der Gegend: Reis, Bohnen, Fisch, Fleisch und Maniok-Mehl zum Draufstreuen - außerdem Obst. Viele Schüler mögen das nicht besonders und essen lieber Kekse.

    Die Schule hat auch eine kleine Bibliothek und einen Computerraum. Der Präfekt der Kommune hatte uns gesagt, das Colegio sei nicht zuletzt deshalb "eine Modellschule". Diotilia Rangel lacht wieder. "Eine Modellschule sind wir nicht nur aus diesen physischen Gründen. Wir sind vor allem gut vernetzt im Dorf. Wir arbeiten mit vielen Leuten hier zusammen, zum Beispiel mit der Gesundheitsstation" (die gegenüber auf der anderen Seite des Dorfplatzes liegt).

    Seit einiger Zeit hat das Colegio auch eine Schul-Psychologin. Die hat die Verwaltung direkt beim Präfekten beantragt, weil auffallend viele Schüler Lernschwierigkeiten hatten."Wir vermuten, dass das am Elternhaus liegt", sagt Diotilia Rangel. "Wenn dort zum Beispiel Alkohol und Drogen konsumiert werden, dann sind die Kinder oft sehr unruhig und können sich bei uns kaum konzentrieren."

    Bildung auf Boipeba: Die Kommune hat einiges angestoßen und versucht, mit dem Festland mitzuhalten. 22 Schüler sind dieses Jahr in der Abschlussklasse, und die Direktorin sagt ihnen (nach eigenem Bekunden) fast jeden Tag: Versucht die Aufnahmeprüfung für eine der staatlichen Universitäten. Die Latte liegt hoch: Die Prüfungen sind so schwer, dass sie oft nur von Schülern aus teuren Privatschulen geschafft werden (auch wenn es inzwischen Quoten gibt für alle Schichten).

    Vor diesem Hintergrund klingt das Motto, das jeder Schüler hier auf dem Rücken seines Uniform-Shirts trägt, wie eine Kampfansage: "Preparando no presente os caminhos para o futuro": In der Gegenwart bereiten wir die Wege für die Zukunft vor.

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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba