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Schuld in der Wildnis

David Vanns im Original als Novelle bezeichnetes neues Buch gehört zu einem Gesamtwerk von sechs Erzählungen, die alle ein Thema eint: die Auseinandersetzung mit seinem Vater, der sich selbst tötete, als der Autor 13 Jahre alt war.

Von Martin Grzimek | 28.07.2011
    Seit etlichen Jahren schwirren durch Film, Fernsehen und Literatur Variationen einer Vaterfigur, die wir alle gut zu kennen glauben: Der "Pappa", wie der Vater auch von seinen längst erwachsenen Kindern meist genannt wird, ist entweder ein unter Leistungsdruck leidender Geschäftsmann oder ein der 68er-Generation entstammender labiler Mensch, der an seinen gescheiterten Idealen festhält. Der eine Typus vernachlässigt seine Familie, weil er zu viel arbeitet, der andere, weil er zu viel trinkt. Dazwischen gibt es dann noch den - natürlich verkannten - Künstler.

    Die Auflehnung der Söhne gegen solche starken oder schwachen Väter endet nur selten in totalem Zwist oder Verzweiflung. Stattdessen bemüht man sich um einen eher komödienhafte Verlauf, der sich zum Schluss in Harmonie oder zumindest gegenseitiger Duldung auflöst. Die Probleme mit dem "Pappa" sind vergleichsweise harmlos, individualisiert und voll gepackt mit Stereotypen und Klischees.

    Demgegenüber stellt der Roman des 1966 geborenen Amerikaners David Vann eine Ausnahme dar. "Im Schatten des Vaters" heißt seine Novelle, die man hier als "Roman" bezeichnet und aus dem Zusammenhang von insgesamt sechs Erzählungen gerissen hat, die in den USA unter dem Titel "Legend of a suicide" veröffentlicht wurden. Zu rechtfertigen wäre dieser Eingriff, weil die anderen Erzählungen wesentlich kürzer sind, und im Gegensatz zu der Novelle "Sukkwan Island", wie "Im Schatten des Vaters" im Original heißt, wird in ihnen die Ich-Perspektive benutzt.

    Doch alle eint das Thema der Auseinandersetzung mit dem Vater und damit ihr autobiografischer Kern. Denn David Vanns Vater hat sich, als der Autor 13 Jahre alt war, mit einem Kopfschuss selbst getötet. Bereits in seinem ersten Buch mit dem Titel "A mile down" hat sich Vann mit diesem einschneidenden Erlebnis beschäftigt. Danach begann er mit 19 Jahren an "Im Schatten des Vaters" zu schreiben, gewissermaßen ein Zwei-Personen-Stück, das in der einsamen Wildnis von Alaska spielt. Dorthin sind Jim und Roy, der Vater und sein 13-jähriger Sohn, aufgebrochen, um für ein Jahr abgeschieden von aller Zivilisation zu leben.

    Sie kannten diesen Ort nicht, diese Lebensweise, einander. Roy war dreizehn, es war der Sommer nach der siebten Klasse. Er hatte bei seiner Mutter in Santa Rosa in Kalifornien gelebt, mit Posaunenunterricht und Fußball und Kino und der Schule direkt in der Stadt. Sein Vater war Zahnarzt gewesen in Fairbanks. Jetzt zogen sie in eine kleine spitzdachige Finnhütte aus Zedernholz. Sie stand an einem Fjord, einer kleinen Bucht in Südostalaska (...). Erreichen konnte man sie nur übers Wasser, mit einem Boot oder Wasserflugzeug. Nachbarn gab es keine. (...) Die Insel, auf der sie waren, erstreckte sich hinter ihnen noch über mehrere Meilen, Meilen aber, die mit dichtem Regenwald bewachsen waren ...

    Eine einfache Holzhütte, das notwendige Werkzeug, um Bäume zu fällen und Feuer zu machen, und eine Grundausrüstung an Kleidern und Konservendosen begleiten die beiden. Dabei haben sie auch ein Funkgerät, um mit der in Fairbanks zurückgebliebenen Restfamilie und dem nächstgelegenen Flughafen in Kontakt zu bleiben.

    Was uns und den 13-jährigen Roy erwartet, ist erst einmal nichts anderes als Abenteuer pur. Doch schon nach den ersten Wochen des kargen Lebens teilt sich diese Robinsonade auf. Zum einen konzentriert sie sich auf das schlichte Überleben, das Beschaffen von Brennholz, das Anlegen eines Lagerraums für Vorräte, die Vorsicht gegenüber Bären - zum anderen entpuppt sich in der Wildnis der labile Charakter des Vaters, der nachts weinend neben seinem heranwachsenden Sohn auf dem notdürftig eingerichteten Lager liegt und zugeben muss, dass sein Leben gescheitert ist.

    Es ist bewundernswert, mit welcher Genauigkeit der Autor David Vann all diese Zustände und Situationen des sich Zurechtfindens in der Fremde und der Einsamkeit darstellt. Auf den ersten hundert Seiten geschieht dies fast durchgängig aus der Perspektive des pubertierenden Roys. Unwillkürlich fühlt man sich in seine Sichtweise ein und gewinnt durch den schüchternen Blick immer mehr Distanz zu dem zum Scheitern verurteilten, nicht lebenstüchtigen Vater. Man denkt schließlich, als der Vater nach einem Streit mit seiner geschiedenen Frau am Funkgerät eine Pistole in der Hand hält: Jetzt ist er konsequent, erschießt sich, und der Sohn muss seinen Weg allein finden durch diese Wildnis der Gefühle und der Natur. Doch genau das Gegenteil geschieht. Der Vater gibt Roy die Pistole, zieht sich Mantel und Stiefel an und geht wortlos hinaus.

    Roy sah ihm nach, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, und betrachtete dann die Pistole in seiner Hand. Der Hahn war gespannt, und er konnte die Kupferpatrone sehen. Langsam löste er den Hahn, richtete die Pistole weg vom Körper, dann spannte er ihn wieder, hielt sich den Lauf an den Kopf und drückte ab.

    Mit dieser überraschenden Wendung, mit der Umkehrung des zu Erwartenden endet der erste Teil der Novelle. Zugleich wechselt die Perspektive des Erzählens. Denn der bis dahin nur weinend und ums Überleben bemühte dargestellte Vater muss mit einem Mal die Hauptrolle übernehmen und mit all den Schwierigkeiten kämpfen, seinen toten Sohn zu betrauern, dessen Körper zu konservieren und ihn zurück nach Fairbanks zu bringen.

    Zugleich macht er sich Gedanken darüber, wie er sich Fremden gegenüber rechtfertigen kann, dass nicht er seinen Sohn, sondern dieser sich selbst getötet hat. In dem Versuch, die Tat zu melden - das Funkgerät hat Jim in seiner Wut und Verzweiflung zerstört - und den Sohn den Behörden zu übergeben, muss David Vann nun den Vater notgedrungen auf eine Reise schicken, auf der die jeweilige Umgebung, auf die er trifft, die Handlung bestimmt. Der Vater verstaut den Leichnam des Sohnes in einem Schlafsack, schleift ihn durch die unwegsamen Wälder, findet eine verlassene Hütte und kampiert dort notdürftig, während der Tote immer mehr verwest. Das Schicksalhafte der Ereignisse, der Kampf mit der Natur, der zuvor noch eine Auseinandersetzung mit sich selbst bedeutete, gerät im Folgenden zu einer bloßen Ansammlung von Widrigkeiten.

    Dazwischen bestimmen Erinnerungen an den Sohn und bruchstückhafte Selbstgespräche das Geschehen, in denen man das Bemühen des Autors spürt, der Geschichte von Vater und Sohn einen, wenn nicht gesellschaftlichen, so doch zumindest familiären Hintergrund zu geben. Durch solches assoziiertes Heranholen der Vergangenheit begibt sich die Novelle in allzu flaches Gewässer. Das anfangs verstörende Erlebnis, das Vater und Sohn aneinander und miteinander haben, kehrt sich um in eine bloß psychologisch und rein situativ begründete Handlungsfolge, in dem das Erzählen längst nicht mehr ein Von-sich-Erzählen ist. Der Sohn stirbt an Stelle des Vaters, begleicht auf tragische Weise dessen Lebensschuld und wirft damit ein ganzes Bündel von tief gehenden Fragen auf. Doch der Vater findet darauf keine Antwort oder, anders gesagt, der Autor legt ihm keine in den Mund.

    Dazu passt der Schluss der Novelle. Bei einem Fluchtversuch des Vaters, der des Mordes verdächtigt wird, gerät dieser in die Hände von Seeleuten, die ihm das angebotene Geld abnehmen und ihn schließlich auf hoher See ins Meer werfen, so dass er ertrinkt. Somit ist zwar auch die Schuld des Vaters gesühnt, aber die Fragen, wie es zu diesem desaströsen Leben kommen konnte, bleiben offen.

    David Vann hat sich ihnen mit seiner Novelle in einer intensiv geschriebenen Prosa genähert und dafür zurecht viel Lob und Anerkennung erhalten. Doch der wahren Konfrontation, sich in seinen Vater hineinzudenken, ist er durch einen stilistischen Schlenker auf fatale Weise ausgewichen.

    David Vann: "Im Schatten des Vaters". Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow, Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 185 Seiten, 17,90 Euro.