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Schuld und Vergebung im Christentum
Die Hölle ist kalt

2018 war das Jahr der kirchlichen Schuldbekenntnisse. Christinnen und Christen sollen sich ihrer Sünden bewusst sein. Wer Reue zeigt, darf auf Vergebung hoffen. Die sexuelle Gewalt in den eigenen Reihen wurde wie eine moralische Verfehlung behandelt, aber nicht wie ein Verbrechen.

Von Mechthild Klein | 21.12.2018
    Lavasee des Nyiragongo
    Der Lavasee auf dem Vulkan Nyiragongo sieht höllisch aus. Doch wer glaubt schon noch an die ewige Verdammnis? (Bettina Rühl)
    Der Sünde ist nicht zu entkommen, sie kennt man auch in völlig unreligiösen Zusammenhängen: Es gibt Steuersünder, Parksünder oder Temposünder. Der Begriff hat etwas von seiner Schärfe verloren. Doch auch wenn das Wort in den Kirchen kaum noch mit dem Donnerhall von Höllenpredigten ausgesprochen wird: Die Konzepte dahinter gehören bis heute zu den zentralen Pfeilern des Christentums. Mancher Theologe macht sich allerdings daran zu schaffen:
    "Die Kirche sollte ohne die unterdrückenden Elemente von Schuld und Sünde auskommen", sagt der Hamburger evangelische Theologe Friedrich Brandi. Er glaubt, dass die Konzepte von Schuld und Sünde an eine personale Gottesvorstellung gebunden sind.
    "In dem Augenblick, wo Du von einem theistischen Gott redest, also von einem Gott, der praktisch die Weltgeschicke in der Hand hält, wenn Du dich von dem Gott entfremdest, dann lädst Du Dir Schuld auf. Und damit hat praktisch bis zur Aufklärung oder auch mit Sicherheit bis ins 20. Jh. die Kirche gearbeitet, um die Leute zu unterdrücken. Da waren solche Begriffe wie Schuld und Sünde einfach Instrumente, um Menschen klein zu machen, um Gott groß zu machen."
    Sünder am unteren Bildrand
    Die alten Kirchen und Kathedralen sind voll davon: Zeugnisse von Sünde und Schuld aus der Bibel in Stein gehauen oder in Gemälden festgehalten. Das fängt bei Adam und Eva an. Mit dem ersten Sündenfall, als Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis ergreift und das göttliche Verbot übertritt. Und Bilder-Geschichten reichen bis zum Jüngsten Gericht am Ende aller Zeiten, bei dem Gott die Menschen nach ihren Sünden richten soll. Die Höllenqualen der Sünder tauchen meist am unteren Bildrand auf.
    Eigentlich kommt die Schuld-Frage in jedem Gottesdienst vor – im Vaterunser, wo es heißt: "Vater, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Auch in den Briefen des Apostels Paulus wird immer die drohende Sündhaftigkeit beschworen.
    Friedrich Brandi: "Wenn ich Paulus-Briefe im Gottesdienst lese, da wird mir manchmal auch ganz schlecht. Manchmal muss ich auch dagegen predigen, weil diese alten Texte voll sind von diesen Kategorien – da muss man auch aufpassen als Pastor."
    Entfremdung vom Lebensgrund
    Die Theologie von "Schuld und Sünde" kann auch anders gedacht werden, ohne den Druck, sagt der Theologe. Nämlich als Entfremdung von sich selbst und anderen. Das klingt für protestantische Ohren sehr vertraut.
    "Jeder Mensch lebt im Dissens mit sich selber und mit anderen. Also ich muss nicht unbedingt das Wort "Schuld und Sünde" in den Mund nehmen. Aber das, was damit gemeint ist, die Entfremdung vom Lebensgrund, die Entfremdung von anderen Menschen, das würde ich als Theologe schon als "Sünde" bezeichnen. Damit lädt man sich natürlich auch Schuld auf. Ich finde das immer in Beziehung zu Kindern, zu Ehepartnern lässt sich das am deutlichsten machen."
    Sünde ist ein schillernder Begriff – in 2000 Jahren haben sich viele Vorstellungen in der Theologie entwickelt. Doch man komme nicht weiter, indem man moralisch argumentiere, glaubt Brandi. Neue Begriffe wären hilfreich für das Sündenverständnis – denn die alten seien belastet.
    Kehrseite der Freiheit
    "Die Rede von Sünde und Schuld ist nur sinnvoll, wenn ich von der Freiheit des Menschen rede. Und deswegen ist das eine die Kehrseite der Medaille des anderen. Und aus christlicher Perspektive brauche ich natürlich den personalen Gott. Weil die Erlösung von Sünde und Schuld durch Jesus Christus geschieht, in seiner Person, deshalb lässt es sich aus christlicher Sicht nur in einem personal gedachten Gottesverhältnis von Sünde und Schuld sprechen", sagt der Theologe und Direktor der katholischen Akademie in Hamburg Stephan Loos. Auch für ihn gehört die Lehre von Schuld und Sünde untrennbar zum theologischen Fundament.
    Stephan Loos: "Wie das genau aussieht, ob das wirklich ein Trost ist, oder ob das dann am Ende mehr Angst macht – das hängt davon ab, wie ich das kirchlicherseits vermittele, wie ich das lehre. (…) Aber die eigentliche Botschaft, um die es geht, ist: dass Gott dem Menschen am Ende der Zeiten verzeiht. Aber Sie haben völlig recht, damit ist lange über Jahrhunderte bis in die jüngste Zeit hinein sehr viel Machtmissbrauch, sehr viel Schindluder betrieben worden."
    "Allzu lange haben wir weggeschaut"
    Zum Beispiel verurteilte die Kirche jahrhundertelang selbstbestimmte, einvernehmliche Sexualität, vorehelichen Sex sowieso, auch Homosexualität. Das Jahr 2018 war nun das Jahr der Schuldeingeständnisse der Kirchen. Ihre Kleriker, aber auch kirchlichen Mitarbeiter haben selbst Tausendfach sexualisierte Gewalt ausgeübt und vertuscht. Die Opfer waren ihre Schutzbefohlenen, Kinder und Jugendliche – Kardinal Reinhard Marx dazu:
    "Die Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" führte und deutlich und klar vor Augen, dass diese Thematik eben keine überwundene Thematik ist. (…) Allzulange haben wir in der Kirche weggeschaut, vertuscht, geleugnet, wollten es nicht wahrhaben (…) Wir haben den Opfern zu wenig zugehört."
    Die Kirchenvertreter baten die Betroffenen um Entschuldigung für all den Schmerz, den sie erlitten haben, die jahrelange Verleumdung. Die beschuldigten Priester oder Pastoren hingegen hatten kaum mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen, sie wurden häufig nur versetzt. Deutliche Worte fand auch die evangelische Bischöfin Kirsten Fehrs.
    "Aufarbeitung, sexualisierte Gewalt und Grenzverletzung auch in der evangelischen Kirche - das geht ans Innerste auch unseres Kirchenverständnisses. … (Das) heißt einstehen für Verfehlungen, heißt Verantwortung übernehmen. .. Wir haben uns gegenüber Menschen, die sich uns anvertraut haben schuldig gemacht. Auch als Institution!"
    Im christlichen Glauben geht es eigentlich darum, das eigene Tun zu reflektieren. Die Ohnmächtigen, die Armen in den Blick zu nehmen. Aber die Kirchen haben neue Entrechtete geschaffen.
    Beichten reicht, der Staat bleibt draußen
    Als Sünde zählt alles, was gegen den Willen Gottes gerichtet ist. Die Erzählungen in der Bibel umschreiben den göttlichen Willen, die 10 Gebote zeigen den Rahmen. Die Gleichnisse Jesu betonten noch einmal die Liebe zum Nächsten. Es geht um eine Ethik, die den Mitmenschen achtet, ihn einbezieht und ihm Raum gibt.
    "Da geht es darum, die Armen, die Kleinen, die Sünder, die Entrechteten in den Blick zu nehmen. Weniger die Reichen, Mächtigen und die, die von sich selbst überzeugt sind, keine Schuld auf sich zu laden. Da geht es darum, im eigenen Tun zu schauen, was führt die Menschen zusammen und was trennt sie. Was bringt mich näher zu Gott und was entfernt mich eher von ihm. Achte ich auf die Besitztümer des anderen. Achte ich auf die Menschen, die mir in meinem Umfeld nahestehen", sagt der Theologe Stephan Loos.
    Für ihn weiß auch der Schuldige sich von Gott und den Mitmenschen angenommen, auf dem Wege der Reue – deshalb könne er zu seiner Schuld stehen. Das könne der Menschen auch als Befreiung erleben. Die Würde des Menschen stehe und falle nicht mit dem, was er getan oder nicht getan habe.
    Allerdings zeigen gerade die Fälle sexualisierter Gewalt, dass Schuldgeständnis und Buße als Ersatz für staatliche Strafverfolgung benutzt werden können. Täter und Vorgesetzte glaubten: Beichten reicht, Strafanzeigen sind nicht nötig.
    Gewisse Form von Gängelung
    Unterdessen wird das Gros der Katholikinnen und Katholiken nicht mehr im Beichtstuhl gesichtet. Stefan Loos vermutet, dass auch das mit Machtmissbrauch zu tun hat.
    "Das ist, glaube ich, eines der großen Krisenmomente, warum quasi das Beichtsakrament oder Bußsakrament relativ wenig gefragt ist, weil die Menschen damit eine gewisse Form von Gängelung, von Moralisierung verstehen, die sie über sich ergehen lassen müssen, und das wollen Sie nicht. Mit Recht wollen sie das nicht!"
    Für die kirchenferne Klientel, die immer noch Kirchensteuer zahlt, mögen die Begriffe Schuld und Sünde kaum mehr von Bedeutung sein. In beiden Kirchen gewinnen jedoch Gemeinschaften, die stark auf eine restriktive Moral und klare Vorstellungen von Gut und Böse setzen, an Zulauf. Diese sich christlich nennenden Gruppen sehen den Bedeutungsverlust der Volkskirchen mit Genugtuung.