Donnerstag, 28. März 2024

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Schule in Krisenregionen
"Bildungsbereich in der Nothilfe chronisch unterfinanziert"

25 Millionen Kinder und Jugendliche sind laut UNICEF nicht in der Lage, eine Schule zu besuchen, ohne Leib und Leben in Gefahr zu setzen. Der Bedarf an Bildungsmaßnahmen in Krisenregionen sei sehr viel höher als das, was Hilfsorganisationen leisten könnten, sagte Rudi Tarneden von UNICEF im Dlf. Es fehle vor allem an finanziellen Mitteln.

Rudi Tarneden im Gespräch mit Markus Dichmann | 23.08.2017
    Ein Klassenraum, der bei dem Luftangriff zerstört wurde.
    Nur drei Prozent der weltweiten Ausgaben im Rahmen der Nothilfe werden laut Rudi Tarneden für Bildung ausgegeben. (AFP / Omar Haj Kadour )
    Markus Dichmann: Laut Zahlen des Kinderhilfswerks UNICEF leiden aktuell 25 Millionen Schulkinder weltweit unter den Folgen von Krieg und Konflikten. Für UNICEF jetzt zu Gast in unserer Sendung ist Rudi Tarneden. Grüße Sie, Herr Tarneden!
    Rudi Tarneden: Ja, grüße Sie!
    Dichmann: Gehen wir noch mal kurz zur Situation in der Ukraine, Herr Tarneden. Wie würden Sie die, wie würde UNICEF diese Situation bewerten?
    Tarneden: Es leben etwa rund 200.000 Kinder und Jugendliche in dieser sogenannten Pufferzone im Osten des Landes, die seit jetzt über zwei Jahren unter extremen Spannungen lebt und auch immer wieder Schauplatz von Gefechten, von Kämpfen, auch von Beschuss von zivilen Einrichtungen und Wohnhäusern ist. Diese Zeit ist an den Kindern überhaupt nicht vorübergegangen.
    Es ist Lärm, Stress, Zerstörungen, Checkpoints, der ganze Alltag ist eben von Unsicherheit geprägt. Und viele Schulen, viele Lehrer sind eigentlich damit überfordert, mit den Kindern richtig umzugehen. In dem Gebiet sind auch viele Familien, die fliehen mussten, zum Teil mehrfach, die leben in sehr beengten Verhältnissen, manchmal mit zwei Familien in winzigen Wohnungen, und ihr einziger Fluchtpunkt, wenn es knallt, sind irgendwelche dunklen Keller. Also, das ist eine sehr schwierige Situation.
    "Druck auf die Kinder enorm hoch"
    Dichmann: Insgesamt 25 Millionen Kinder, heißt es in einem Bericht von UNICEF, sind nicht in der Lage, eine Schule zu besuchen, ohne Leib und Leben in Gefahr zu setzen. Die Zahl nannte ich ja gerade schon, von welchen Schauplätzen, von welchen Konflikten außerhalb der Ukraine sprechen wir denn hier?
    Tarneden: Ganz klar sehen wir, dass in den Krisenländern der Erde, von Syrien und seinen Nachbarländern über den Jemen, über den Südsudan, da, wo Gewalt, Chaos, aber auch Fluchtsituationen zum Alltag gehören, der Druck auf die Kinder enorm hoch ist, und dass wir sehen, dass in diesen Ländern es nicht nur darum geht, den Kindern mit Nahrung, Wasser und Medikamenten zu helfen, sondern es geht darum, sie zu stabilisieren.
    Und insbesondere der Bildungsbereich ist in dieser Nothilfe chronisch unterfinanziert. Wir sehen, dass gut drei Prozent der weltweiten Ausgaben im Rahmen der Nothilfe nur für Bildung ausgegeben werden, dabei ist es eben extrem wichtig, diese Kinder zu stabilisieren. Und UNICEF setzt sich überall politisch und mit allen Mitteln dafür ein, um diesen Kindern ein Stück weit Orientierung und Sicherheit zu geben.
    "Bestehende Einrichtungen erhalten"
    Dichmann: Jetzt haben Sie die Unterfinanzierung schon angesprochen, Herr Tarneden. Vor dem G20-Gipfel in Hamburg hieß es vonseiten der UNICEF, dass das Kinderhilfswerk 932 Millionen US-Dollar benötige dieses Jahr, um knapp 10 Millionen Kindern in Krisenregionen Zugang zu Bildung zu verschaffen. Bevor wir zurück zu den Dollars, zur harten Währung zu kommen, fangen wir mal so an: Was sind das eigentlich für Maßnahmen, die UNICEF ergreift und ergreifen kann, um vor Ort Abhilfe zu schaffen, die aus diesen Geldern finanziert werden können?
    Tarneden: Das Entscheidende ist ja, dass man in diesen Krisenländern bestehende Einrichtungen erhalten muss und sie gleichzeitig befähigen muss, zum Beispiel Flüchtlingskindern mitaufzunehmen; wenn es Schulen gibt in sicheren Gebieten, dass die Kinder, die dorthin fliehen, zum Beispiel im Schichtbetrieb dann mitunterrichtet werden; dass genügend Lehrer geschult und ausgebildet sind, um die Kinder zu versorgen, und dass sie aber auch wissen, wie sie mit Kindern, die Schlimmes durchgemacht haben, besser umgehen zu können, um ihnen zu helfen.
    Ganz sicher fehlt in diesen Gebieten auch ganz häufig Lernmaterial, Hefte, Stifte, also was ganz, ganz Elementares, was für uns so selbstverständlich ist, das gibt es einfach nicht. Und wir stellen das zur Verfügung und wir müssen auch im Winter dafür sorgen, dass die Schulen geheizt sind und dass dort Energie zur Verfügung steht und auch sauberes Wasser.
    "Der Bildungshunger ist einfach zu groß"
    Dichmann: Aber jetzt gehen wir mal aus von einer intakten Schule mit intakter Infrastruktur, und auch Schreibhefte und Materialien sind zur Verfügung: Können denn Kinder aber in solchen Regionen überhaupt sinnhaft beschult werden? Denn ich meine, wenn man draußen vor dem Schulgebäude das Gewehrfeuer hören kann, dann ist das doch für die Kinder im Grunde eine nicht ertragbare Situation?
    Tarneden: Also, meine Erfahrung in Krisengebieten, von Besuchen dort ist, dass Kinder ein ganz erstaunliches Maß an Verdrängungsfähigkeit besitzen und genau das tun, was eigentlich alle anderen Kinder auf der Welt eben auch tun: spielen und lernen. Und ich habe das zum Beispiel im Nordirak erlebt, da hatte UNICEF sogenannte kinderfreundliche Orte eingerichtet, da kamen hunderte Kinder hin, dort wurde gemalt, gezeichnet, gespielt, es wurden auch Unterrichtsstunden abgehalten. Und das war eigentlich das, wonach sich die Kinder gesehnt haben, nämlich einer Insel der Normalität im Chaos.
    Also, ich glaube, aus der Perspektive der Kinder ist der Wunsch nach Bildung enorm hoch. Vor wenigen Tagen hat mir ein Kollege aus Syrien berichtet, dass es zum Beispiel gelungen ist, Tausende Kinder aus belagerten Städten herauszuholen, damit sie ihre Examen, die staatlich anerkannt sind, außerhalb dieser Stätte machen. Das heißt, wenn man sozusagen die Prüfer nicht in die Städte reinbringen kann, gehen die Kinder raus, um ihre Prüfung abzulegen. Der Bildungshunger und der Wunsch, etwas aus der eigenen Zukunft zu machen, ist einfach zu groß.
    "Bedarf ist höher als das, was wir leisten können"
    Dichmann: Dann zurück zu den Finanzen, um solche Wünsche ja irgendwie auch zu ermöglichen und wahr werden zu lassen! Wir sprachen davon, dass im Juli vor dem G20-Gipfel noch mal von UNICEF-Seite gesagt wurde: Gut 900 Millionen Dollar in diesem Jahr sind benötigt, es wurden erst etwa 100 Millionen eingefahren, also ein Neuntel dessen, was anschließend notwendig wäre. Ist UNICEF mit so knappen Mitteln dann überhaupt einsatzfähig?
    Tarneden: Der Bedarf ist viel, viel höher als das, was wir leisten können. Trotzdem - und das ist glaube ich die Botschaft, die wir immer wieder unterstreichen müssen -, das Glas ist nicht halb leer, sondern das, was in dem Glas ist, das ist das Entscheidende, mit dem können wir arbeiten.
    Und wir sehen deswegen zum Beispiel Initiativen wie einen internationalen Fonds, der heißt "Education Cannot Wait", also "Bildung kann nicht warten", mit dem Ziel, dass Regierungen mehr Mittel dort reinfließen lassen, also so ein großer Geldtopf aufgebaut wird, mit dem dann Hilfsorganisationen, von dem Flüchtlingshilfswerk über UNICEF bis andere lokale Organisationen, in Krisenregionen Bildungsprogramme durchführen können. Wir setzen uns sehr dafür ein, dass auch die Bundesregierung diesen Fonds und die Gestaltung dieses Fonds materiell, aber auch inhaltlich unterstützt, weil wir glauben, dass damit ein wichtiges Signal für Kinder in Krisenländern gesetzt werden kann.
    "Das Bewusstsein dafür schaffen"
    Dichmann: Da wird nun aber auch deutlich, dass UNICEF, was das Geld angeht, ja nun abhängig ist von den Leistungen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Insofern muss man natürlich die Frage stellen, ob die Staatengemeinschaft hier eigentlich in einer weltweiten Bildungskatastrophe schlichtweg versagt!
    Tarneden: Ich glaube, es kommt darauf an, das Bewusstsein dafür überhaupt zu schaffen. Wir haben weltweit sehr viele Krisen und die Regierungen geben schon Mittel und setzen sich dafür ein, um zum Beispiel Flüchtlingskindern aus Syrien zum Beispiel in der Türkei den Schulbesuch zu ermöglichen. Da sehen wir durchaus Ansatzpunkte und auch ein wachsendes Verständnis. Aber dieses reicht eben bei Weitem nicht aus, und es sind manche Länder, die dort schon weiter sind, in anderen Ländern, die vielleicht nicht so nah an dieser Problematik dran sind, fehlt dieses Bewusstsein noch. Und deswegen arbeiten wir da sehr stark dran.
    Dichmann: Schule in Krisenregionen, unser Thema. Rudi Tarneden war das im Gespräch in "Campus und Karriere". Danke, Herr Tarneden!
    Tarneden: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.