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Schule
Privat oder Staat

Ein Zehntel aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland gehen auf eine Privatschule. Bildungsforscher diskutieren die Chancen, die Schulen in freier Trägerschaft bieten, aber auch Probleme, die sie ins Bildungswesen einschleusen.

Von Carolin Hoffrogge-Lee | 06.02.2014
    "Was ist denn mit euch, wollt ihr mit mir ins Gespräch kommen? Also, hier haben wir ganz einfache Aufgaben zur Prozentrechnung. Wir können ja mal gemeinsam schauen."
    Lehrer Moritz Weißmann sitzt in einem bunten Wollpulli, Socken und Hausschuhen vor seinen Schülern. Was in Regelschulen Unterricht heißt, heißt in der Freien Schule Heckenbeck bei Bad Gandersheim in Niedersachsen "Angebot". Heute im Angebot; Prozentrechnung für Samuel und Geri:
    "Hier kann man das schon einfach sehen, 29 von 100 sind 29 Prozent."
    Ihre Angebote bietet die Freie Schule Heckenbeck in einem alten Bauernhaus. Eine verschachtelte, bunte Schule, denn überall wurde angebaut. Ganz wichtig: Pantoffeln sind Pflicht. Schulleiter Felix Ordemann:
    "Das ist ein Teil unserer Arbeit, dass wir selbst was anbieten. Der andere Teil, dass die Kinder mit ihren Impulsen kommen. Je besser wir darauf eingehen können, desto besser für die Kinder."
    Die freie Schule Heckenbeck ist eine von vielen Privatschulmodellen, sagt Pädagogikprofessorin Margret Kraul. Sie hat untersucht, wie vielfältig die Privatschulen sind: von reformpädagogisch alternativ bis konfessionell orientiert, von sozial integrativ bis elitär. Der Frust über staatliche Schulen scheint bei vielen Eltern groß zu sein.
    "Wir wissen das eine, dass ist aus eine Forsa-Umfrage hervorgegangen, dass rund die Hälfte aller Eltern wenn sie denn die Möglichkeit hätten, ihre Kinder zu privaten Schulen schicken würden. Das Erziehungsziel, dass die höchste Priorität hatte, war, dass die Kinder Lebensfreude haben sollen, also eine sehr starke Kindzentriertheit. Diese Kindzentrierung trägt auch dazu bei, dass man Privatschulen wählt und zum Teil auch gründet."
    Eine Schule ohne Leistungsdruck
    Susanne Kenntemich wollte für ihre Tochter und ihren Sohn eine andere Schule als die Grundschule um die Ecke, eine Schule ohne Leistungsdruck. Also gründete sie vor 13 Jahren die "Freie Schule Heckenbeck", mit einem stark reformpädagogischen Ansatz, aber auch mit enorm viel Elternarbeit:
    "Wir schaffen es nur durch ein großes Engagement der Elternschaft. Wir planen einen Anbau, wir platzen aus allen Nähten. Es gibt Eltern, die unterrichten. Eine Mutter unterrichtet hier Spanisch. Andere Eltern gestalten den Kreativbereich, das heißt, sind da regelmäßig präsent. Es gibt auch Eltern, die in der Bauphase mitwirken."
    Leisten Eltern wie Susanne Kenntemich diese Arbeit in der Privatschule, nennt Stephan Köppe sie Koproduzenten. Als Promovend an der University of Dundee in Schottland forscht Köppe zur Rolle der Eltern an Privatschulen:
    "Sie agieren als Koproduzenten, sie gestalten das Schulleben mit. Meine Daten legen nahe, dass sie weniger an den pädagogischen Prozessen beteiligt sind, sondern an organisatorischen und Instandsetzungsarbeiten. Diese Koproduzenten-Rolle ist sicherlich interessant, die Frage, wie kann man die Koproduzenten-Rolle stärken, wo die Schüler, die Schule und auch die Eltern profitieren und es eine gute Gemeinschaftsschule werden kann."
    Privatschulen sind überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert
    Alle ziehen an einem Strang und fühlen sich dazugehörig. Von dieser gemeinsamen Identität könnten sich öffentliche Schulen etwas abgucken und die Eltern ihrer Schüler zu mehr Gestaltung anleiten, meint Stephan Köppe. Einen zunehmenden wirtschaftlichen Druck auf die staatlichen Schulen kritisiert Professorin Andrea Liesner vom Institut für allgemeine Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg. Dieser Druck wird ihrer Meinung nach auch durch den Boom der Privatschulen ausgelöst:
    "Die meisten Privatschulen können sich ja nicht selber finanzieren. Sie werden zwar immer dargestellt als die bessere Alternative zu dem maroden öffentlichen Schulsystem. Ganz selten wird dazu gesagt, dass Privatschulen überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert sind. Wenn Privatschulen öffentliche Gelder bekommen möchten, haben sie sich an das gesetzliche Sonderungsgebot zu halten, das heißt, Kinder dürfen nicht abhängig vom Einkommen der Eltern zu Privatschulen zugelassen werden, sondern müssten gleiche Chancen haben. Wer profitiert vom Privatschulboom? Das sind überwiegend die Mittelschichten und nicht diejenigen Kinder, die vielleicht eine besondere Förderung brauchen."
    Privatschulen, wo der Staat sich zurückzieht
    Einen ganz anderen Grund für viele Privatschulgründungen speziell im Osten Deutschlands sieht Heiner Ullrich aus der Not heraus geboren. Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Mainz. Er hat fünfundsiebzig neue, private Grundschulen im Osten untersucht.
    "Dort gibt es Elterninitiativen, die nach den Schulschließungen von Grund- und Sekundarstufen für ihre eigenen Kinder am Ort eigene Privatschulen gründen. Es ist die Frage, ob sich im Rahmen des demografischen Wandels ähnliche Schulentwicklungen auch im Westen vollziehen, also kleinere Grundschulen als Akteure auf den Plan treten, dort wo Schulschließungen Nischen hinterlassen."
    Schließlich habe der Staat die Verpflichtung die Grundschule für alle Kinder in Wohnortnähe anzubieten. Heiner Ullrich mit Beispielen aus dem Ausland:
    "Ein gutes Vorbild sind die Kleinschulen, in Österreich, in der Schweiz. Dort sind auch nicht alle Kleinschulen geschlossen worden, bis heute. Sie haben mittlerweile ein ganz anderes Prestige als heute, wo sie früher als verstaubt und qualitätslos galten. Dort ist auch eine heftige Debatte in Gang, ähnlich wie in Finnland und Skandinavien, über den Erhalt von Kleinschulen. Ich denke, daran schließt die Entwicklung in Deutschland an. Ich denke, das bedeutet auch eine Herausforderung an die Lehrerausbildung im Bereich der Grundschule, dass man mit Heterogenität und Altersmischung eben umzugehen lernt und sie nicht nur als Notlösung betrachtet, sondern als Gestaltungsaufgabe."
    Auch die starren Lernformen an Regelschulen machen den Boom der Privatschulen aus. Glaubt man den Schülerinnen Charlotte, Danifa und Marlene, der freien Schule im niedersächsischen Heckenbeck ist das altersgemischte Lernen für sie ein Genuss:
    Charlotte: "Ich finde es gut, weil in der Regelschule sitzt man immer und muss machen, was auf dem Stundenplan steht."
    Danifa: "Ich mache zur Zeit nur Englisch."
    Marlene: "Dass man alles freiwillig macht. Man muss halt nicht und hat dann Spaß."