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Schulz-Euphorie in der SPD
"Emotional ausgeglichen ist die SPD nicht"

Allein mit den Schlagwörtern Würde, Respekt und Gerechtigkeit könne die SPD nicht in die Wahl ziehen, sagte der Journalist und Politologe Daniel Friedrich Sturm im DLF. Martin Schulz müsse jetzt liefern. Die plötzliche Geschlossenheit der SPD empfindet Sturm geradezu als unheimlich.

Daniel Friedrich Sturm im Gespräch mit Jasper Barenberg | 20.03.2017
    Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag am 19. März 2017 in Berlin.
    Auf Martin Schulz liege eine geradezu übermenschliche Erwartungshaltung, sagt Daniel Friedrich Sturm. (AFP / John MacDougall)
    Jasper Barenberg: Man kann nicht gerade behaupten, dass die SPD es ihren Vorsitzenden leicht gemacht hätte in der Vergangenheit. Ganz im Gegenteil! Und auch für Sigmar Gabriel galt wohl, dass er geachtet wurde, manchmal gefürchtet, aber nie so richtig geliebt. Wenn nicht alles täuscht, ist das bei Martin Schulz durchaus anders. Befreit von den Fesseln der ungeliebten Großen Koalition legt er eine Kampfeslust und einen Machtwillen an den Tag, die seine Partei für den Moment jedenfalls euphorisiert und sie in den Umfragen beflügelt.
    Mitgehört hat der Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor Daniel Friedrich Sturm. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren etwa in Artikeln für die Zeitung "Die Welt", aber auch in Büchern mit der SPD. Schönen guten Tag, Herr Sturm.
    Daniel Friedrich Sturm: Guten Tag, Herr Barenberg.
    "Eine geradezu übermenschliche Erwartungshaltung"
    Barenberg: Herr Sturm, wieviel Absturzgefahr lauert im momentanen Rausch der Sozialdemokraten?
    Sturm: Viel weiter hoch kann es ja wohl kaum gehen. Diese 100 Prozent symbolisieren natürlich die hohe Erwartungshaltung, die in der SPD an Martin Schulz gerichtet ist, eine geradezu übermenschliche Erwartungshaltung, die sich in diesem Ergebnis manifestiert. Das liegt einfach daran, dass die SPD eigentlich kaum wiederzuerkennen ist, wenn man sie vergleicht mit dem Zustand vor zwei Monaten etwa noch. Sie ist jetzt sehr geschlossen, sie ist diszipliniert und hat gute Umfragewerte. Das kennt die SPD ja eigentlich gar nicht.
    Barenberg: Anders herum gefragt: Wieviel Potenzial steckt in diesem Rausch, in der Angriffslust, auch im Kampfgeist, den wir da erleben, und in dem Machtwillen, den Martin Schulz an den Tag legt?
    Sturm: Ich glaube, dass die SPD in der Tat, anders als in den Bundestagswahlkämpfen 2009 und 2013, eine realistische Machtoption hat auf das Kanzleramt, und das beflügelt diese Partei natürlich. Es gibt ja schon so eine Stimmung offenbar im Volk, die aufgeschlossen gegenüber dem ist, was Schulz sagt. Schulz redet ja sehr gefühlig. Das Wort Respekt, das Wort Würde spielte gestern eine große Rolle in seiner Rede, aber das ist ja auch schon vorher von ihm ausgetestet worden. Das ist alles nebulös, da hat der Kollege Capellan in seinem Beitrag vollkommen recht gehabt. Aber es gibt ja offenbar so ein Bedürfnis danach, was von Frau Merkel erkennbar nicht befriedigt wird und was die doch auch etwas technokratischen Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier 2009 und Peer Steinbrück 2013 nicht befriedigt haben. Schulz kann das offenbar.
    "Es gibt innerhalb des demokratischen Spektrums wieder Diskussionen"
    Barenberg: Steckt, würden Sie sagen, ein Stück des Zaubers, der sich auch in den Umfragen niedergeschlagen hat, gerade in diesem Kontrast zwischen einem sehr euphorischen und kampfeslustigen SPD-Vorsitzenden auf der einen Seite und einer Kanzlerin, die, na sagen wir, Solidität ausstrahlt, aber nicht mehr?
    Sturm: Ja, wobei er muss natürlich auch Solidität ausstrahlen. Ich glaube, die Deutschen wollen einen soliden Bundeskanzler, und die bisherigen Kanzler waren es ja auch alle. Das wird schon noch dazukommen. Aber natürlich, Sie haben recht: Der Kontrast spielt eine große Rolle und natürlich muss eine Partei, die einen amtierenden Kanzler oder eine amtierende Kanzlerin in diesem Fall ablösen will, einen Kontrast aufmachen. Das ist ja in all den letzten Jahren nicht recht gelungen, weil die SPD mit der Großen Koalition identifiziert wurde. Wir hatten ja im Grunde bis zu der Nominierung von Schulz eine Lage in Deutschland, dass es eine amorphe Masse gab der Großen Koalition, Union und SPD, in Teilen sicher auch noch der Grünen, die ja weite Teile der Flüchtlings- und Europapolitik mittragen, eine amorphe Masse dieser Parteien gegen die AfD, und die AfD gegen diese amorphe Masse. Das hat sich ja jetzt ganz geändert. Es gibt innerhalb des demokratischen Spektrums, auch innerhalb der Bundesregierung wieder Diskussionen und Streitpunkte zwischen Union und SPD, und das ist ja für die Demokratie eigentlich ganz gut.
    Barenberg: Der Kollege im Beitrag hat gesagt, verkehrte Welt, und in der Tat hat man den Eindruck, früher war es immer so, die SPD ist zerstritten, die Union geschlossen, und dieses Mal für den Moment scheint es umgekehrt zu sein: Merkel führt eine entzweite Union und Schulz eine euphorisierte SPD.
    Sturm: So ist es in der Tat. Der Konflikt zwischen CDU und CSU ist ja nicht aufgelöst und auch der Konflikt zwischen Frau Merkel und der CSU und Teilen ihrer eigenen Partei auch nicht. Bei der SPD ist es jetzt ganz anders. Das ist auch ein bisschen geradezu spooky, muss ich sagen. Jetzt ist die SPD geschlossen diszipliniert, optimistisch, zielbewusst und siegesgewiss. Das ist ja eine ganz andere SPD als die, die wir noch vor ein paar Monaten erlebt haben, als sie wirklich verzagt war, als sie unsicher war, als sie mit sich im Unreinen war und große Angst hatte vor der Bundestagswahl. Die Abgeordneten haben damit gerechnet, dass ganz, ganz viele Mandate verloren gehen. Jetzt kann die SPD den Umfragen nach damit rechnen, wirklich viele Mandate hinzuzugewinnen. Das ist natürlich beflügelnd. Aber man kann natürlich schon die kritische Frage stellen, was ist eigentlich von einer Partei zu halten, die gestern mit 100 Prozent einen Vorsitzenden wählt, die vor gut einem Jahr mit 74 Prozent einen Vorsitzenden abstraft, den sie gestern wiederum gefeiert hat. Man muss sagen, emotional ausgeglichen ist die SPD nicht.
    "Martin Schulz muss natürlich liefern"
    Barenberg: Muss man auch sagen, dass die Geschlossenheit genau in dem Moment in der SPD endet, wenn es irgendwann konkret wird und konkret werden muss, was ein Wahlprogramm beispielsweise angeht?
    Sturm: Ja. Ich glaube, das ist dann in der Tat der Lackmustest, denn Martin Schulz muss natürlich liefern. Er muss sagen, was er in der Steuerpolitik zum Beispiel haben möchte. Er hat ja beim Thema Arbeitslosengeld schon ein bisschen was gesagt. Er hat ja gesagt, dass ältere Arbeitnehmer bis zu vier Jahre lang Arbeitslosengeld kriegen sollen, davon zwei Jahre für Weiterbildung. Ich glaube, dem einen oder anderen aus dem rechten Flügel der SPD, von den Wirtschaftspolitikern, gefällt das nicht. Sie halten aber jetzt alle den Mund und hoffen darauf, dass sie auch ihre eher wirtschaftsfreundlichen Punkte dann bekommen. Und dann erwarten sie natürlich aber auch, dass der linke Flügel das auch billigt und da nicht gegen aufmuckt. Ich habe gestern mit einem prominenten SPD-Politiker auf dem Parteitag gesprochen und habe ihn auch nach der Konkretisierung gefragt, und er sagte mir, warum sollen wir das denn jetzt liefern, es läuft doch so auch ganz gut, und wir müssen jetzt nicht die 37. Ableitung – so sagte er wörtlich – des Themas soziale Gerechtigkeit bringen, das reicht jetzt erst mal für den Moment.
    "Frau Barley legt die Latte relativ tief"
    Barenberg: Aber ist das nicht wirklich ein ganz interessanter Aspekt dieser ganzen Debatte? Man hat ja inzwischen wirklich den Eindruck, Parteiprogramme, wenn man hört, die SPD in allen Gliederungen ist jetzt gerade dabei, das große Wahlprogramm zusammenzuschreiben. Brauchen wir das bei einem Martin Schulz, der einfach sagt, Würde, Respekt, Gerechtigkeit?
    Sturm: Mit Würde, Respekt und Gerechtigkeit kann die SPD nicht in die Wahl ziehen. Das ist einfach zu wenig. Die SPD ist ja auch eine Programmpartei. So versteht sie sich, so ist sie historisch gewachsen und Programme spielen bei der SPD traditionell auch historisch bedingt eine viel, viel größere Rolle als bei der pragmatischen Staats- und Regierungspartei CDU und CSU, wo es in erster Linie darum geht, zu regieren, und wo dann diese Inhalte nicht ganz so wichtig sind. Und wenn jetzt die Generalsekretärin der SPD, Frau Barley, auf die Frage, wann denn mal endlich Inhalte kommen, sagt, na ja, aber Frau Merkel liefert ja auch keine Inhalte, ist das natürlich eine ziemlich schwache Antwort, die mit den eigenen Grundsätzen relativ wenig zu tun hat. Da legt sie dann die Latte relativ tief.
    Barenberg: Schauen wir noch mal auf die andere Seite, auf die von Angela Merkel. Was kann sie denn noch liefern, um dieser Emotionalität von Martin Schulz etwas entgegenzusetzen?
    Sturm: Das ist, glaube ich, schwierig. Ich glaube, Frau Merkel – wir kennen ja alle Frau Merkel und Frau Merkel hat ja auch am Ende des letzten Fernsehduells gesagt, sie kennen mich. Ich glaube nicht, dass ein Mensch jenseits von 40 Lebensjahren noch in der Lage ist, sich grundsätzlich zu ändern. Ich glaube nicht, dass sie jetzt sich neu erfinden kann, um auf diese Art und Weise gegen Schulz zu punkten. Ich glaube auch nicht, dass sie das möchte. Das ist, glaube ich, auch nicht ihr Selbstverständnis, so viel oder so wenig ich von Frau Merkel weiß. Aber das wird für die Union, glaube ich, schon relativ schwer. Man merkt ja auch an den Angriffen, die zuweilen etwas unter der Gürtellinie sind, wenn etwa der CSU-Generalsekretär von Schizo-Schulz spricht, dass es da schon eine große Sorge gibt. Übrigens sehr bemerkenswert, dass einige in der Union, der durchaus scharfzüngige Herr Söder sich mit Kritik, mit persönlicher Kritik oder mit Herabwürdigung gegenüber Herrn Schulz sehr zurückhält.
    Barenberg: Mal sehen, wann sich das ändert – der Journalist und Buchautor Daniel Friedrich Sturm heute hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für die Zeit.
    Sturm: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.