Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Schutz gegen Lawinen und Steinschlag
Netze gegen Naturgewalten

Nachdem ein Lawinenunglück in der Schweiz in den frühen Fünfzigerjahren viele Tote forderte, wurden Netze als Lawinenschutz eingesetzt. Die Drahtnetze des Unternehmens Geobrugg aus der Schweiz sollen heute nicht nur Lawinen stoppen, sondern alles, was die Schwerkraft in Bewegung setzt.

Von Klaus Lockschen | 10.05.2019
Langgezogen hinter einem Drahtzaun erstreckt sich die anthrazitfarbene Produktionshalle der Firma Geobrugg im Industriegebiet der Schweizer Bodenseegemeinde Romanshorn. Draht allerorten auch auf dem Außengelände. Hunderte von zentnerschweren Rollen im Meterdurchmesser lagern hier, ebenso eine kaum zählbare Menge zusammengerollter Maschendrahtbündel, an die zehn Meter lang. Selbst im Treppenhaus des vierstöckigen Verwaltungstrakts sorgen Drahtnetze als unkonventionelles Stilelement für den Brüstungsschutz.
Lawinen im Winter, Steinschlag im Frühjahr
"Unsere Kernkompetenz ist die Verarbeitung von hochfestem Draht zu hochfesten Netzen. Das sind eigentlich im Bereich mit Schutznetzen gegen gravitative Naturgefahren. Also Dinge, die über die Schwerkraft runterkommen wie Steine, Muren, Lawinen und Böschungsinstabilitäten".
Andrea Roth, im Rätoromanischen ein männlicher Vorname, ist Chef des Unternehmens. Dessen Ursprung geht auf 1836 zurück. Damals eine Hanfseilerei für den Bodenseefischfang, die um 1900 allmählich auf Drahtseile umstellte.
"1951/52 in einem sehr starken Lawinenwinter mit fast 200 Toten in der Schweiz hat eigentlich diese ganzen Lawinenschutzsysteme sind da gestartet. Und dann hat man eben aus diesen Drahtseilen Netze gemacht. Das erste wurde am Schafberg in Pontresina 1952 aufgebaut mit Holzstützen und sehr einfachen Netzen, aber das Konzept hat eigentlich bis heute überlebt. Natürlich mit viel neueren Bauteilen".
Die Netze zeigten von Anfang an gute Wirkung. Und nicht nur als Schutz gegen Schneelawinen.
"Dann im Frühling hat man gemerkt, wo die Steinschläge gekommen sind, dass solche flexiblen Netze die Steine viel besser stoppen, ohne dass die Netze beschädigt werden, weil sie eben flexibler sind, und daraus sind dann eigentlich auch die Steinschlagnetze entstanden".
Zudem zeigte sich, dass Netze auch Murgänge, also rasende Walzen von Schlamm und Geröll mit gewaltigem Verwüstungspotenzial, zurückhalten können.
Der 43-Jährige erklärt das Grundprinzip der Schutznetze: Eine zentrale Rolle spielen zwei bis vier Millimeter dünne Stahldrähte. Die sind so fest, dass sich zehn Zentimeter lange Stück selbst mit aller Kraft nicht von Hand biegen lassen. Je nach Anwendung werden die Drähte maschinell in verschiedene Formen gebracht: Einzeln oder als Dreiergebinde gebogen, um später ein rautenförmiges Netz zu werden, ähnlich einem normalen Maschendraht. Oder, als Hochenergienetz, zu Ringen verdrillt und dabei, Stück für Stück, ineinander verwoben.
"Nachher brauchen wir Stützen dazu, Stahlstützen und Stahlseile, Drahtseile, die wir zukaufen, und dann eigentlich mit dem das ganze System zusammenstecken.
Fundamentiert werden die Teile mit Seilankern, die in bis zu 10 Meter tiefe Bohrlöcher im Felsen einbetoniert werden.
"Wenn denn so ein Stein auf ein Netz trifft, dieses muss den Stein langsam abbremsen können, gibt die Kräfte dann weiter an die Seile Und über diese Seile werden dann die Kräfte zu den Bremselementen geführt. Das ist auch ein Schlüsselteil unserer Technologie, wo die Energie dann über plastische Verformung absorbiert wird. Und die Kräfte gehen dann auf die Anker, wo die Seile verankert sind".
Gewaltige Energien und kurze Bremswege
Waren es früher nur geringe Kräfte, die mit den Netzen abgebremst werden konnten, sind es mittlerweile gewaltige Energien.
"Dieses 10.000 Kilojoule-Netz, das stoppt einen Block von 25 Tonnen, einen Betonblock von 25 Tonnen, mit über 100 Stundenkilometern. Da muss man sich vorstellen: sind zehn Mercedes-S-Klasse, je 2,5 Tonnen, die parallel gleichzeitig mit über 100 Stundenkilometern in diese Barriere reinfahren und dann auf etwa acht Metern Bremsweg von 100 auf null gestoppt werden".
Geobrugg, Jahresumsatz rund 200 Millionen Euro, ist ein Global Player. Die Hälfte der 300 Beschäftigten arbeitet in der Schweiz, die andere verteilt sich auf Produktionsstätten in den USA, China und kleinere Werke in Japan, Australien und Russland.
Ein Vorhang aus olympischen Ringen
Marketingleiter Paul Braun führt durch die Produktion. Laut ist es hier. Erster Stopp: eine fußballtorgroße Maschine, die den Draht für höchste Belastungen zu Ringen formt.
"Die werden ineinander mehr oder weniger gedrillt, ja, und dann ineinander praktisch verwoben. Ähnlich wie bei einer Spinne eigentlich: Jje größer das Objekt, das sie fangen muss, desto größer auch die Maschen. Hier geht´s dann eher um die ganz hohen Energiebereiche".
Was am Ende herauskommt, erscheint wie ein riesiger stählerner Vorhang aus olympischen Ringen.
Wenige Schritte weiter befinden sich blaue, geschlossene Kabinen. Durch Sicherheitsglas ist zu beobachten, wie darin der stetig nachgeführte Draht von einer rotierenden Metallscheibe millimetergenau zickzack gebogen wird. Danach erfolgt das Zusammenführen mit dem nächsten Draht.
"Hier sieht man also wunderbar das Spiralseilnetz. Hier wird´s gefertigt. Das ist eigentlich das Herz von der ganzen Produktion, da steckt unser ganzes Know-how drin. Hochfester Stahldraht, nicht ganz einfach, das zu biegen, das akkurat hinzubekommen".
Auch die Formel 1 braucht Netze
Und einige Meter davon entfernt:
"Das sind Bremsringe. – Wozu braucht man Bremsringe? – Gibt´s einen Einschlag, muss erst noch dieser Bremsring deformiert werden. Er wird zu einer kleineren Schlaufe gezogen. Das bietet eben noch mal ein zusätzliches Absorptionsvermögen".
Apropos Bremsen. Ein relativ neues Geschäftsfeld sind Formel 1-Rennstrecken. Geobrugg bietet für Boxengassen und den Zuschauerschutz nun ebenfalls Zaunsysteme an.