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Schutzpässe für verfolge Juden

Schweden und Ungarn haben das Jahr 2012 zum Wallenberg-Jahr erklärt. Sie ehren damit Raoul Wallenberg, der sich 1944/45 für die verfolgten Budapester Juden einsetzte. Später wurde er nach Russland verschleppt, bis heute ist sein Schicksal ungeklärt. Am 04. August 1912 wurde Wallenberg geboren.

Von Anna Hertel | 04.08.2012
    Die Schwedin Nina Lagergren erinnert sich an ihren älteren Halbbruder Raoul Wallenberg, der als Retter Tausender ungarischer Juden in die Geschichte eingegangen ist.

    "Seitdem ich sehr klein war, war über ihm so eine Aura. Wir haben immer das Gefühl gehabt, dass er etwas ganz Merkwürdiges mit seinem Leben tun würde. Aber nicht in dieser Hinsicht. Das war ja nicht so gewöhnlich, so etwas Idealistisches."

    Wallenberg wurde am 4. August 1912 in Kappsta bei Stockholm als Sohn einer bedeutenden schwedischen Bankiersfamilie geboren. Der Vater war vor seiner Geburt gestorben. Der Großvater sah für den Enkel eine Karriere als Bankier vor. Doch während einer Ausbildung in Haifa kam Raoul zu dem Schluss:

    "Ein Bankdirektor sollte ruhig, kalt und zynisch sein. Ich glaube aber, ich habe eher eine positivere Einstellung, als dazusitzen und 'nein' zu den Leuten zu sagen."

    In Palästina lernte der junge Mann jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland kennen. Das Schicksal der Verfolgten bewegte ihn, wie sein deutscher Biograf Christoph Gann weiß:

    "Näheres zur Situation der ungarischen Juden erfuhr Raoul Wallenberg durch seinen Geschäftspartner, der aus Ungarn stammte. Und dessen Schwiegereltern lebten noch in Ungarn und waren nach der deutschen Besetzung der Verfolgung ausgesetzt. Raoul Wallenberg wollte deshalb nach Ungarn gehen, um ihnen zu helfen. Zur gleichen Zeit suchte man aber auch von Schweden aus nach einer Person, die nach Budapest gehen könnte, um sich für die verfolgten Juden insgesamt einzusetzen."

    Kurzerhand wurde der knapp 32-jährige studierte Architekt zum Diplomaten an der schwedischen Gesandtschaft in Budapest gemacht. Seine Mission wurde auch von Amerika unterstützt. Vor der Abreise äußerte er gegenüber dem US-Botschafter in Stockholm:

    "Ich möchte effektiv helfen und Leben retten und bin nicht daran interessiert, nach Budapest zu gehen, nur um Berichte zu schreiben."

    Die jüdische Landbevölkerung Ungarns war zu diesem Zeitpunkt bereits deportiert worden. Auf Wallenbergs Initiative hin verabschiedeten die Vertretungen verschiedener Staaten erstmals gemeinsame Protestnoten. Mit Blick auf die Verfolgten in der Hauptstadt meinte er:

    "Es ist notwendig, unter den Juden das Gefühl zu beseitigen, sie seien vergessen."

    Zum Herzstück seiner Rettungstätigkeit wurden die sogenannten Schutzpässe. Sie stellten die Inhaber unter die Obhut der schwedischen Gesandtschaft. Wallenberg brachte Tausende in Schutzhäusern unter und sorgte für ihre Verpflegung. Manche befreite er noch am Bahnhof, kurz vor der Deportation, oder auf den Todesmärschen. Auch Verfolgte ohne Schutzpass im Budapester Ghetto versorgte er mit Lebensmitteln. Christoph Gann:

    "Raoul Wallenberg setzte sein eigenes Leben für die Verfolgten aufs Spiel. Adolf Eichmann, der die Judenverfolgung in Budapest organisierte, drohte gar, den 'Judenhund Wallenberg', wie er sich ausdrückte, erschießen zu lassen. Dies führte zu offiziellem Protest Schwedens in Deutschland. Und man rechtfertigte sich damit, Raoul Wallenberg habe sich in durchaus unüblicher Weise und mit absolut illegalen Mitteln für bestimmte Juden eingesetzt."

    Etwa 119.000 Menschen überlebten in Budapest die Shoa, so viele wie in keiner anderen besetzen Stadt Europas. Raoul Wallenbergs Einsatz wurde weltweit gewürdigt. Verschiedene Länder, darunter die USA, ernannten ihn zum Ehrenbürger, er ist "Gerechter unter den Völkern" in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

    Der Schwede selbst konnte jedoch keine der Ehrungen entgegennehmen. Die Sowjetunion verschleppte ihn im Januar 1945 nach Moskau in das berüchtigte Lubjanka-Gefängnis, unter anderem wohl wegen des angeblichen Verdachts auf Spionage für die USA. Erst 1957 gab man die Gefangennahme zu. Bis heute behauptet die russische Seite, Wallenberg sei 1947 im KGB-Gefängnis gestorben. Beweise fehlen, Schweden verlangt weiter eine Aufklärung. Biograf Christoph Gann:

    "Es ist erschreckend, dass bis zum heutigen Tag das Schicksal von Raoul Wallenberg nicht aufgeklärt ist. Russland sollte den 100. Geburtstag endlich zum Anlass nehmen, Farbe zu bekennen und alle Akten offenzulegen."

    Manche sehen in Raoul Wallenberg einen Helden, der schier Unmögliches geleistet hat. Seine Halbschwester Nina Lagergren widerspricht.

    "Man kann nicht tun, was er getan hat. Aber jeder Mensch hat die Möglichkeit, etwas zu tun, um die Welt besser zu machen und sich selbst besser zu machen."