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Schwäbische Venus

Paläoanthropologie. - Tübinger Forscher haben in der Hohle-Fels-Höhle eine weibliche Figurine mit extrem betonten Geschlechtsmerkmalen gefunden. Es ist das älteste der bislang 25 Elfenbeinfigürchen von der Schwäbischen Alb, die nach derzeitiger Kenntnis den Anfang der bildenden Kunst darstellen. Der Wissenschaftsjournalist Michael Stang ordnet den neuen Fund im Gespräch mit Uli Blumenthal ein.

14.05.2009
    Blumenthal: Herr Stang, der Fund schlägt ja medial hohe Wellen. Ist es auch wissenschaftlich eine Sensation?

    Stang: Ja, das kann man schon so sagen. Also zum einen, wie Sie eben gesagt haben, es ist die älteste Figur, die wir aus diesem Bereich kennen, die der Wissenschaft bekannt ist. Und die ist sehr detailliert dargestellt. Also, es ist nicht nur eine grobe Form, wie man das vielleicht von anderen Schnitzereien kennt, sondern es ist eine sehr deutlich weibliche Figur. Der Busen ist ja sehr weit ausgeprägt, die Scham ist deutlich zu erkennen, und es ist halt eine Figur, in die ein hoher Wert dahingehend interpretiert wird, kommen wir vielleicht später noch drauf zu sprechen. Und allein das Alter, es sind verschiedene Datierungen gemacht, einige stehen noch aus, das bestätigt schon, dass es eine frühe Kunst gab, die man schon in diesem Alter noch nicht vermutet hat, und allein aus diesem Grund ist es eine Sensation.

    Blumenthal: Mit welchem Techniken hat man denn diese Figur untersucht?

    Stang: Ja, man hat sie zum ersten nur einmal grob gereinigt, sie zusammen geklebt, das waren sechs Fragmente, sie ist noch nicht vollständig, die Schulter und ihr linker Arm fehlen, einen Kopf hat sie auch nicht, wahrscheinlich auch nie gehabt, sondern nur eine Öse, damit man sie um den Kopf tragen konnte. Und es sind zum ersten Mal aus der ganzen Region Radiokarbon-Datierungen gemacht worden, an benachbarten Knochen, an Erdresten, an Werkzeugen, die da gefunden wurden. Die Thermolumineszenz-Datierung, die steht noch aus, da weiß man es genauer. Und deswegen wird jetzt gesagt, sie ist älter als 30.000 vor heute, es könnte aber sogar bis 40.000 gehen. Und natürlich kleine Röntgenuntersuchungen, um wirklich die Details sich besser anschauen zu können.

    Blumenthal: Eine weibliche Figur mit üppigen Busen und ausladenden Hüften. Was sagt dieser Fund über die figürliche Darstellung und über die Vorstellungen unserer Vorfahren aus?

    Stang: Nun ja, also die künstlerischen Wurzeln sind mit diesem Fund älter als gedacht. Sie reichen weiter . Und Paul Mellars, ein Archäologe aus Cambridge vermutet sogar, dass Süddeutschland, also diese Gegend, wo sehr viele dieser Figuren gefunden wurden sind, auch Mischwesen aus Mensch und Tier, aber bislang halt keine weiblichen Figuren, dass Süddeutschland eine Art Brutstätte der bildenden Kunst sein kann. Und es ist klar, dass aus diesem Fund-Bereich, dass diese Figuren vom anatomisch modernen Menschen, also von unseren direkten Vorfahren stammen, die vor rund 40.000 Jahren in diese Ecke gekommen sind. Und seit ihrem Bestehen da hat sich die künstlerische Darstellung schon entwickelt. Es ist klar, dass es dadurch keinen höheren Überlebensvorteil gab oder etwas ähnliches, aber die Menschen haben sich schon selber reflektiert und, ja, dieser Bezug auf die Weiblichkeit, das interpretieren die Forscher dahingehend, ja, dass die anatomisch modernen Menschen auch schon so geistig weit waren, dass sie sich selbst reflektieren konnten und diese Kunst entwickelt haben.

    Blumenthal: Es ist denn nun nicht der erste Aufsehen erregende Fund aus dieser Region. Frühere Schnitzereien von Löwenmenschen oder Tieren, etwa einem Wasservogel, kennt man ja schon. Welche Bedeutung nimmt dieser Fund in der Wissenschaft ein, anders gefragt: wie verändert dieser Fund die bisherige Sicht der Dinge?

    Stang: Nun, es ist klar, dass diese Kunst sehr viel älter ist als bislang gedacht. Wenn man überlegt, bis zu 40.000 Jahre, da befinden wir uns noch in der Eiszeit, es ist diese Altsteinzeit, muss man sich ja auch als sehr, sehr tristes Klima damals vorgestellt haben. Die Menschen haben schwere Winter durchgemacht, waren aber trotzdem in der Lage, in diesen Höhlen schon sich so viel Zeit zu nehmen, um aus Elfenbein, was auch keine leicht zu bearbeitende Material ist, solche Figuren zu schnitzen. Es gibt auch Interpretationen, dass die Künstler damals vermutlich an Holz oder Lehm schon geübt haben, bevor sie sich an das schwierige Material Elfenbein gewagt haben. Und zudem ist es ja auch, sechs Zentimeter ist ja nicht sehr groß. Das heißt, die Menschen waren damals schon sehr weit in ihrer Reflektion über den weiblichen Körper und haben diese kleinen Figuren gebastelt. Sie werden irgend einen bestimmten Grund gehabt haben.

    Blumenthal: Welches Fazit kann man ziehen? Welches Fazit ziehen die Wissenschaftler? Wie geht es weiter?

    Stang: Also die nächsten Grabungen stehen schon in vier Wochen an. Vielleicht gibt es ja dann auch noch ein paar neue Fälle. Und sie sagen, vielleicht war es ja diese Fruchtbarkeitssymbolik, dass es eine Art Fruchtbarkeitsgöttin war, die Schwangere um den Hals getragen haben, um ihnen Glück zu wünschen, oder es war die Richtung Schamanismus. Man weiß es nicht, und die Forscher hoffen jetzt, dass bald neue Funde gemacht werden, die dieses Bild etwas verdichten können. Denn aus dieser Zeit gibt es keine schriftlichen Hinterlassenschaften, und alles was man bislang weiß, ist nur ein Bereich der Interpretation.