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Schwarzes Psychogramm des Elends

Auf der Interimsbühne des Kölner Schauspielhauses, das zurzeit renoviert wird, hatte das von Karin Henkel inszenierte Stück "Die Ratten" von Gerhart Hauptmann Premiere. Henkel ist eine große, zeitlose Aufführung gelungen, die souverän durch die Genres des Theaters surft.

Von Dorothea Marcus | 21.10.2012
    Meistens hat eine Bühne für "Die Ratten" zwei Etagen: unten haust das arme, verwahrloste Prekariat, oben auf dem Dachboden probt der Theaterdirektor mit seiner Familie, wie man durch Kunst dem Elend entkommt. Bei Regisseurin Karin Henkel verschmelzen die beiden Welten zu einer einzigen: die Bühne ist ein schwarzer Kasten mit rund 100 Klappen darin, ein Rattenkäfig, in dem man sich gut verstecken kann – er erinnert an Massenunterkünfte, Schicht-Schlafen, Tier-Versuche. Das überfüllte Mietshaus, in dem sich das Drama abspielt, ist ein fahrbares Gestell, ein schiefes Holzkreuz hängt darin, mehr Attrappe als Glaubensbekenntnis. Moral hat in dieser bedrängten Armut keinen Platz.

    Der erste Teil des Abends ist mehr eine Meta-Betrachtung des Theaters. Selbst das Berlinerisch der Vorlage wird im Rheinland zur genüsslichen Kunst-Sprache. An den Seiten schminken sich die Figuren, werden grotesk ausstaffiert, tragen Rokoko-Kostüme, Puppenschminke, Ballett-Tutus zu Pickelhauben. Leben und Kunst sind eins. Yorck Dippe als Theaterdirektor dirigiert zunächst übermächtig das Geschehen. Zunächst ist er ein abgehalfteter Komödiant in Fett-Anzug und verschmiertem Clownsgesicht, später ein smarter, allmächtiger Alpha-Regisseur. Er demütigt den Schauspielschüler Erich Spitta genauso, wie er später die eigene Tochter züchtigt. Bei Gerhart Hauptmann ist Schauspielschüler Spitta eine dümmliche, unsympathische Figur, in Hans-Peter Kampwirths Darstellung wird er ein engagierter Verfechter des dokumentarisch-politischen Theaters, das die Welt verändern will – ein Gegenentwurf zur elitären, weltfernen Kunst-Kacke aus, für die der Theaterdirektor steht. Immer wieder muss er für ihn den Lady Macbeth-Monolog aufsagen. Schauspieler Kampwirth hat ihn einst in der legendären Inszenierung von Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus gegeben. Doch über all den Insider-Zitaten und Theater-Meta-Ebenen vergisst man zunächst fast das Drama um Frau John, die einst ein Kind verlor und nun über Leichen geht, um diesen Schicksalsschlag wieder gutzumachen:

    "Ein totet kind, das man in die Sonne legt, das muss aber Mittagssonne Sommersonne sein, det atmet. Det schreit. Det wird wieda lebendig. Dann kann de Mutter kommen, dann kann set nehmen.
    John ist unheimlich, komm!
    Dat ist aber so…"


    Doch nach der Pause wird Lina Beckmann als Frau John zum düsteren Zentrum des Abends. Immer mehr wird sie selbst zu einer Art Lady Macbeth, die den Mord an der wahren Mutter des Kindes in Auftrag gibt und schließlich an ihrem psychotischen Kinder-Delirium verendet. Lina Beckmann versteht es meisterhaft, einerseits das Drama der kinderlosen Mutter nachfühlen zu lassen – und dennoch die prä-faschistoide Unterschichts-Denunziantin zu geben, sodass man beständig zwischen Empathie und Abscheu schwankt.

    "Det hübsche Medchen, die das Kind beansprucht hat, ist tatsächlich tot…
    Weeß ick nich ob se hübsch war oder nicht…
    Det schlechte gemeine Weibsstück iss es gewesen, hat rumgehurt… Kind am liebsten schon im Mutterleib umjebracht!"


    Gespiegelt wird ihre Mutter-Tragödie von der Tänzerin Kate Strong, die auf Englisch ein bleichgesichtiges crack-abhängiges Mutter-Monster improvisiert und von Lena Schwarz, die im Flatterkleid und wehenden Haaren eine hysterisch gestikulierende polnische Einwanderin spielt, die nie eine Chance hatte. Erst verkauft sie ihr Kind, dann will sie es wiederhaben, schließlich wird sie ermordet. Keinen kümmert es.

    Und so wird das, was zunächst leichtfüßig-distanziert begann, immer mehr zu einem schwarzen Psychogramm des Elends. Bis Lina Beckmann schließlich mit Pappmaché-Krone in einem Eimer voll Blut liegt, an den Prinzessinnenträumen erstickt. Karin Henkel ist nach ihrem in Köln umjubelten Idiot erneut ein großer, zeitlos aktueller Abend gelungen, der souverän durch die Genres des Theaters surft – und schließlich tief in die Eingeweide geht.