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Schwein für alle?
Der Streit ums Essen in Schulkantinen spaltet Frankreich

Seit über 30 Jahren gibt es in Frankreichs Schulkantinen sogenannte Ersatzgerichte. Sie werden angeboten, wenn Schweinefleisch auf dem Speiseplan steht. In mehreren Städten soll sich das nun ändern. Bürgermeister weigern sich, Alternativ-Gerichte für Muslime und Juden anzubieten. Das Argument: Das sei nicht religionsneutral im Sinne der Laizität, die in der französischen Verfassung verankert ist.

Von Margit Hillmann | 03.11.2015
    Kinder und Jugendliche essen in der Kinderküche in Hildesheim.
    Ersatzgerichte - damit "alle Kinder – egal welcher Konfession oder Überzeugungen – zusammen in der Schule essen können." (dpa / picture-alliance / Jochen Lübke)
    Jean-Paul Beneytou sitzt an seinem großen Glasschreibtisch im Rathaus von Chilly-Mazarin. Der Bürgermeister der 20.000-Einwohner-Stadt hat den Schulkantinen klare Anweisung gegeben: Wenn Schweinefleisch auf der Speisekarte der Schulkantinen steht, wird kein Ersatzgericht mehr serviert. "Es gibt Leute, denen das nicht gefällt. Aber es gibt auch viele Leute, die meine Entscheidung sehr richtig finden."
    Wie die Bürgermeister eines halben Dutzend französischer Städte – darunter Toulouse und Perpignan – beruft sich auch Jean-Paul Beneytou auf das in der französischen Verfassung verankerte laizistische Prinzip. Das schreibe einen rundum religionsneutralen Schulbetrieb vor. Es könne nicht sein, dass das muslimische Kopftuch oder die jüdische Kippa an Frankreichs Schulen verboten sind, in den Kantinen aber ein Recht auf Essen nach religiösen Vorschriften gelte. "Ich halte niemanden davon ab, seine Religion zu praktizieren. Ganz gleich, welche Religion: katholisch, buddhistisch, jüdisch oder muslimisch. Ich respektiere alle Religionen, aber nicht in der Schule."
    Es bestehe dringender Handlungsbedarf: Religiöse Spannungen hätten in den Schulen zugenommen; im Rathaus häuften sich Beschwerden von Eltern, die Extrawürstchen für muslimische Kinder beklagten. Zu Recht, bekräftigt der Lokalpolitiker. "Wenn ein Schüler zum Beispiel kein Rindfleisch oder Lamm mag, kein Ei oder Fisch – bekommt er in der Kantine kein Ersatzgericht angeboten. Warum soll dann ein Schüler darauf Recht haben, nur weil er kein Schwein isst?! Um alle gleich zu behandeln, habe ich entschieden, keine Unterschiede mehr zu machen: Alle haben das Gleiche auf dem Teller."
    Rund ein Viertel der Schüler in Chilly-Mazarin haben bisher das Alternativgericht in der Kantine bekommen, überwiegend Kinder aus muslimischen Familien. Sie sollen sich künftig an den Beilagen satt essen oder zu Hause bekochen lassen, schlägt der Rathauschef vor. Eine Notlösung, die in Wahrheit nicht er, sondern die Eltern zu verantworten hätten. "Genau betrachtet gibt es gar kein Problem. Kinder essen doch grundsätzlich alles. Die machen gar keinen Unterschied zwischen den Fleischsorten. Aber wenn ihnen die Eltern sagen, du isst dies und jenes nicht, dann hören sie natürlich darauf. Es sind die Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder wie die anderen essen."
    Der Bürgermeister schaffe Probleme, wo es vorher keine gegeben habe, werfen ihm seine Kritiker vor, allen voran die Eltern. Axelle Pons, Schulelternsprecherin aus Chilly-Mazarin: "Ich bin seit sieben Jahren Elternvertreterin an einer Grundschule. Mir sind nie irgendwelche Beschwerden von Eltern zu Ohren gekommen, weder pro noch contra Schweinefleisch. Die gibt es erst seit Beginn des Schuljahres – weil das Rathaus die Ersatzgerichte gestrichen hat." Die neue Kantinenregel grenze nicht nur Kinder der muslimischen oder jüdischen Gemeinde aus. Sie schade allen Schülern, ist die Mutter von vier Kindern überzeugt, die inzwischen eine Unterschriftenaktion gestartet hat. "Meine Kinder essen Schweinefleisch. Ich mache auch keine Politik. Mir geht als Elternvertreterin ausschließlich um das Wohl der Schüler. Wir wollen, dass unsere Kinder lernen mit anderen zusammenzuleben, egal welcher Religion, gläubig oder nicht. Und dass unsere Kinder zusammen mit ihren Freunden essen können, jeder einen vollen Teller hat."
    Doch weder in Chilly-Mazarin noch in den anderen Städten hat der Elternprotest die Bürgermeister umstimmen können. Und juristische Aktionen müssen sie nicht fürchten: Der Versuch einer muslimischen Bürgerrechtsinitiative, das "Schwein für alle" mit einer einstweiligen Verfügung vor dem Verwaltungsgericht in Lyon zu stoppen, ist gescheitert. Der anhängigen Klage wegen Verletzung des Rechts auf freie Religionsausübung geben Rechtsexperten kaum mehr Chancen."
    Eine rote Karte gibt es allerdings von der staatlichen Beobachtungsstelle für Laizismus. Die nationale Behörde, die 2013 einen laizistischen Leitfaden für Frankreichs Städte und Kommunen herausgegeben hat, ist eindeutig gegen das Streichen der Ersatzgerichte in den Schulkantinen. Sprecher Nicolas Cadène: "Die Wahlmöglichkeit abzuschaffen, den Schülern ein einziges Gericht aufzuzwingen – zum Beispiel Schwein oder Fisch am Freitag – das hat absolut nichts mit Laizismus oder religionsneutralen Kantinen zu tun. Ersatzgerichte sind keine religiösen Gerichte – sie sind weder koscher noch halal. Sie dienen einem allgemeinem Interesse: dass alle Kinder – egal welcher Konfession oder Überzeugungen – zusammen in der Schule essen können."
    Die Pariser Behörde wirft den Bürgermeistern vor, den Begriff "religionsneutral" für parteipolitische Zwecke zu missbrauchen. "Das Laizismus-Prinzip basiert auf der Idee gegenseitigen Respekts. Es darf nicht als Vorwand dienen, um die Gesellschaft auseinanderzudividieren. Politiker, die das ignorieren und permanent polemisieren, sind nicht laizistisch. Sie wollen das Laizismus-Prinzip politisch instrumentalisieren."
    Eine Rechnung, die nicht immer aufgeht. Inzwischen haben sich die Vegetarier in die aufgeregte Laizismus-Debatte eingeladen: mit dem Vorschlag, fleischfreie Ersatzgerichte auf die Speisekarte aller Schulkantinen zu setzen. Damit erledige sich die leidige Debatte rund ums Schwein, Rind oder andere Tiere. Aufgegriffen wurde die Idee von einem Abgeordneten der französischen Zentrumspartei. Innerhalb kurzer Zeit erntete der Politiker mit einer Petition rund 150.000 Unterschriften. Er hat nun einen entsprechenden Gesetzentwurf ins Parlament gebracht.