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Schweiz
Streit um die Nationalmythen

Die Schweiz feiert sich dieses Jahr gleich dreimal: Man gedenkt der Schlacht am Morgarten (1315), der Schlacht bei Marignano (1515) und feiert die Neutralität seit dem Wiener Kongress (1815). Ob es sich dabei um historische Fakten handelt oder um patriotische Legenden - darüber ist jetzt ein Streit entbrannt, der sich im Wahljahr wohl noch weiter zuspitzen dürfte.

Von Stefanie Müller-Frank | 27.04.2015
    Die Schweizer Nationalfahne weht bei strahlendem Sonnenschein nahe dem Eggishorn bei Fiesch (Wallis) in der Schweiz.
    Die Schweizer Nationalfahne weht bei strahlendem Sonnenschein nahe dem Eggishorn bei Fiesch (Wallis) in der Schweiz. (picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger)
    Mit dem Schweizerpsalm ist es so eine Sache: Fast niemand kann den Text der Nationalhymne tatsächlich noch auswendig singen. Und erst recht nicht erklären, was er eigentlich zu bedeuten hat. Dafür klingt er schön historisch. Je älter, desto besser – das gilt auch für die Schweizer Nationalmythen, meint der Historiker Gerog Kreis. Denn umso besser lassen sie sich im Wahlkampf ausschlachten.
    "Weil sie so einfach sind. Und wenn man jetzt über diese Schlacht im 16. Jahrhundert diskutiert, dann hat das sicher eine Ablenkungsfunktion."
    Aber was ist eigentlich passiert? Warum streitet man in der Schweiz plötzlich um Schlachten, die viele Jahrhunderte her sind? Und warum scheint dabei gleich die nationale Identität auf dem Spiel zu stehen?
    "Es gibt eine Sehnsucht in der Schweiz, endlich auch mal einen Historikerstreit zu haben. Aber diese Debatte hat nicht die Qualität. Es wird ja eigentlich gar nicht primär unter Historikern diskutiert, auch nicht um präzise Fragen – sondern da betätigen sich in erster Linie Politiker und Laien und Möchtegernhistoriker."
    Willkommen im Superjubiläumsjahr 2015. Gleich drei historische Ereignisse runden sich dieses Jahr: 700 Jahre sind es her, dass Schwyzer Krieger am Morgarten das habsburgische Heer besiegt haben sollen. Vor 500 Jahren unterlagen die Eidgenossen in der Schlacht bei Marignano. Und vor 200 Jahren, beim Wiener Kongress, besiegelten die europäischen Mächte die schweizerische Neutralität. Über die Bedeutung dieser Gründungsdaten wird allerdings bis heute gestritten.
    "Marignano war bekanntlich eine Niederlage für die Schweiz, aber sie wird ja umgemünzt in eine siegreiche Niederlage. Weil man einen disziplinierten Rückzug angetreten hat, und die Größe noch in der Kleinheit blabla."
    Der Historiker Georg Kreis wollte sich in den Streit um die Deutungshoheit der eigenen Geschichte eigentlich nicht einmischen. Anders der Historiker Thomas Maissen: Er hat sich dafür entschieden, in die Offensive zu gehen. In seinem Buch "Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt" dekliniert er die Nationalmythen von Wilhelm Tell bis Neutralität durch. Dabei stellt er einem Zitat von Christoph Blocher jeweils die historische Wahrheit entgegen.
    "Historiker können völlig unterschiedlich reagieren. Mein geschätzter Kollege Thomas Maissen hat einen Frontalangriff gemacht. Natürlich um den Preis, dass er die Gegner auch nur stärkt. Ich habe einen anderen Weg gewählt: Ich halte mich möglichst still. Jetzt vor Ihrem Mikrofon bin ich fast ein wenig inkonsequent."