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Schweiz
Wiedergutmachungsinitiative für Verdingkinder

Den Familien entrissen, geschlagen und missbraucht: Das Schicksal der sogenannten Verdingkinder gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Schweizer Geschichte. 2013 entschuldigte sich die Regierung öffentlich bei den Opfern, doch einer Wiedergutmachungsinitiative geht diese Entschuldigung nicht weit genug.

Von Hans-Jürgen Maurus | 23.12.2014
    Schweizer Fahne
    Eine Schweizer Initiative fordert einen Soforthilfe-Fonds von 500 Millionen Euro für ehemalige Verdingkinder. (dpa / picture alliance / Patrick Seeger)
    Den Familien entrissen, dann eingesperrt, geschlagen und häufig missbraucht. Es ist eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Geschichte, das Regisseur Markus Imboden 2011 in seinem Film "Verdingbub" nachgezeichnet hat. Im 19. und 20 Jahrhundert wurden Zehntausende sogenannter Verdingkinder "fremd-platziert", alleinstehenden Müttern oder armen Familien weggenommen und auf Bauernhöfe gebracht, wo sie hart schuften mussten.
    Doch in tausenden von Fällen kam es zu schweren Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen. Bis in die 80er-Jahre wurden Kinder Opfer sogenannter erzieherischer Zwangsmaßnahmen. Nachdem sich die Schweizer Regierung 2013 öffentlich entschuldigte, will jetzt eine Volksinitiative über die Wiedergutmachungsinitiative eine finanzielle Entschädigung für die Opfer zu erreichen, durch einen 500 Millionen Franken-Fonds. Den Initianten ist es jetzt in Rekordzeit gelungen, die erforderlichen 100.000 Stimmen zusammenzubringen, damit das Thema vors Stimmvolk kommt. Ständerat Joachim Eder von der FDP begrüßt diesen Schritt:
    "Die 110.000 Unterschriften zeigen, dass die Schweizer Bevölkerung dahintersteht. Es ist keine Frage von links oder rechts, parteipolitisch, sondern wir wollen die Geschichte, dieses tragische Kapitel der Geschichte, aufarbeiten."
    Bis zu 100.000 Betroffene
    Wie viele Kinder wirklich weggegeben oder Opfer erzieherischer Fürsorgemaßnahmen der Behörden wurden ist unbekannt, doch Schätzungen gehen von 100.000 Betroffenen aus, davon leben heute noch 20.000. Auch der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler hat in der eigenen Familie ein Beispiel eines "Verdingbubs":
    "Es ist schon lange bekannt, dieses Unrecht, und ich bin sehr froh, dass es jetzt endlich in einer politischen Form auf den Tisch kommt. Zusätzlich muss ich sagen, dass einer meiner Großväter ein Verdingkind war und ich hab's auch ein bisschen für ihn gemacht."
    "Wir brauchen diese Initiative"
    Dass den Opfern Leid angetan und Tausende noch heute unter den Spätfolgen leiden, ist unbestritten, doch woher das Geld kommen soll, lässt die Wiedergutmachungsinitiative offen. Und wie zu erwarten entspringt jetzt ein neuer Streit um die Finanzierungsfrage. Denn es existiert bereits ein Fonds für Soforthilfe, doch der reicht nicht, meint die sozialdemokratische Nationalrätin Jacqueline Fehr, denn:
    "Es braucht diese Initiative, da sie ein wichtiges Druckmittel ist. Wir kennen diese Politik und das Parlament, wenn's dann konkret wird, ist die Unterstützung oft nicht mehr so groß. Deswegen braucht's diese Initiative und das Zeichen der Bevölkerung, dass hier etwas gehen muss."
    Doch die SVP wehrt sich gegen eine staatliche Lösung, so Nationalrat Luzi Stamm: "Das ist eine ganz gefährliche amerikanische Entwicklung, wenn Sie beginnen, mit riesigen Summen jeden abzudecken, das ist das Ende, das ist amerikanisch."
    Auch der Bauernverband sieht sich nur bedingt in der Pflicht: "Wir sind klar der Meinung, dass das die Verantwortungsträger tun sollen, die entsprechend auch die Entscheidung getroffen haben, der Bund, wie in der Initiative, allenfalls Kantone oder Gemeinden."
    Doch Jaqueline Fehr von der SP schlägt eine große Lösung vor: "Die Gesellschaft, das heißt Bund, Kantone und Gemeinden, aber auch die Kirchen, der Bauernverband, alle, die Verantwortung tragen."
    Abstimmen über eine moralische Frage
    Woher das Geld immer kommen mag ist aber sekundär. Denn eine finanzielle Entschädigung für die Ausbeutung von Kindern ist nicht zuletzt eine moralische Frage. Und die wird jetzt vom Schweizer Stimmvolk entschieden. Bei den Verdingkindern geht es um viele individuelle Geschichten – und Schicksale.

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