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Schweiz
Zugang zu EU-Forschungsprogramm auf der Kippe

Schweizer Forscher könnten bald ihren Zugang zu den Fördertöpfen des europäischen Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 verlieren. Um das zu verhindern, muss die Alpenrepublik bis zum 9. Februar 2017 die Personenfreizügigkeit auf das jüngste EU-Mitglied Kroatien ausweiten. Nun hat das Schweizer Parlament einen Kompromiss beschlossen, der jedoch weiter alles offen lässt.

Von Anneke Meyer | 20.06.2016
    Die technische Hochschule Zürich (ETH)
    Schweizer Hochschulen bangen um Millionen in ihren Forschungsetats. (imago/stock&people/Westend61)
    Unter Zeitdruck arbeitet es sich ja manchmal am besten. Im März hatte die Schweizer Regierung das umstrittene Kroatien-Protokoll unterzeichnet. Vergangene Woche war dann das Parlament am Zug, ohne dessen Zustimmung der Vertrag nicht rechtsgültig werden kann. Wer aber gedacht hatte, das Dossier, an dessen Ratifizierung die Teilnahme der Schweiz bei Horizon 2020 formal hängt, würde vom Parlament einfach durchgewunken, hatte seine Rechnung ohne die rechtskonservative Schweizer Volkspartei, SVP, gemacht. SVP-Nationalrat Roger Köppel äußerte sich während der Debatte, die sich durch die gesamte Woche zog, so:
    "Kein Forschungsprogramm ist es Wert, dass man deswegen die Verfassung fallen lässt. Zudem frage ich Sie: Wie viele Nobelpreise hat die Schweiz gewonnen, seit sie als assoziiertes Mitglied an dieser überschätzten europäischen Forschungskolchose teilnimmt?"
    Nobelpreise hin oder her - Was es bedeutet, von der europäischen Forschungsförderung ausgeschlossen zu sein, davon haben die Schweizer Hochschulen seit Februar 2014 eine recht konkrete Vorstellung:
    Schweizer Tagesschausprecherin: "Die Schweiz sagt Ja zur Masseneinwanderungsinitiative."
    Luzi Stamm, SVP Nationalrat: "Die Schweizer Bevölkerung hat gesagt, statt der freien Personenfreizügigkeit müssen Kontingente eingeführt werden – herzlichen Dank, das hat es gebraucht."
    Schweizer Tagesschausprecher: "Konkrete Konsequenzen, die Schweiz gewährt Kroatien vorerst keine Personenfreizügigkeit und die EU will reagieren."
    Ausschluss aus Forschungsprogramm nach EU-kritischem Volksentscheid
    Eine Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf das jüngste EU Mitglied Kroatien sei mit dem Ergebnis der Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung nicht vereinbar. So sah man es damals in Bern. Für Brüssel ist die Weigerung, einen Grundsatz der Staatengemeinschaft auf alle Mitglieder anzuwenden ein Bruch des ersten bilateralen Vertrages. Und der regelt auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit, erklärt die Forschungslobbyistin Andrea Degen:
    "Es war mir sofort klar, dass all diese Arbeit, die wir all die Jahre gemacht haben, dass das Rad sich möglicherweise zurückdreht, dass es jetzt, ich sage mal so: spannend wird."
    So kam es dann auch. Nach dem EU-kritischen Volksentscheid der Eidgenossen wurde die Schweiz ein gutes halbes Jahr lang vom aktuellen Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 ausgeschlossen. Bei Verhandlungen in Brüssel wurde dann immerhin eine temporäre Teil-Assoziation bis Anfang 2017 erreicht. Wie es danach weiter geht, hängt von der Kroatienfrage ab. Ist die bis 9. Februar 2017 nicht zufriedenstellend gelöst, wird die Schweiz zum Drittstaat degradiert – und ihre Forscher verlieren den Zugang zu den Fördertöpfen der EU.
    Um das zu verhindern, muss das Parlament jetzt entscheiden. Zustimmung oder Ablehnung des Kroatien-Vertrages werden erst nach einer Referendumsfrist gültig. Schon in der nächsten Sitzungsperiode des nur vier Mal im Jahr tagenden Parlaments würde das Ende dieser Frist nach dem mit der EU vereinbarten Stichtag liegen. Eine Zitterpartie, auf die Michael Hengartner, der Präsident des Schweizer Hochschulverbandes, gern verzichtet hätte:
    "Also als Forscher hätte ich mir das sehr gerne erspart. Also ganz klar ist unser Ziel wieder die Voll-Assoziation sowohl bei Horizon 2020 wie auch bei Erasmus Plus."
    Zitterpartie für Schweizer Hochschulen
    Aus gutem Grund: Die innovationsorientierten Schweizer haben bisher nicht schlecht von der "europäischen Forschungskolchose" profitiert. Alleine im Zeitraum zwischen 2007 bis 2013 haben die Eidgenossen fast 10 Prozent mehr an Fördermitteln eingeworben als sie selbst eingezahlt hatten. Darüber hinaus hat jeder Euro aus Brüssel einen kooperativen Mehrwert, der in Franken nicht aufzuwiegen ist, erklärt Andrea Degen:
    "In Forschung und Entwicklung kann man wirklich Innovation eigentlich nur machen, wenn man das Wissen von allen Bereichen einbeziehen kann. Und diese Entwicklung kann man beim besten Willen, auch wenn man jetzt jeden Tag vor dem Spiegel steht und Kuhglocken schwingt und was auch immer, das kann man nicht stoppen!"
    Nach zähen Verhandlungen einigte sich das Parlament am Freitag dann doch noch: Die Regierung darf das Kroatien-Protokoll ratifizieren, allerdings nur, wenn es mit der EU eine Lösung findet, die Zuwanderung zu steuern. Formal öffnet sich damit die Tür für Horizon 2020, gleichzeitig zieht sich aber der Gordische Knoten zu, der das Forschungsabkommen mit der Initiative gegen Masseneinwanderung verknüpft. Wie Personenfreizügigkeit und Quotenregelung zusammenpassen, bleibt die Frage.
    "Wenn Sie zwei Normenkomplexe haben, die in Konflikt sind, dann kann sich entweder der eine auf den anderen zu bewegen, oder es können sich beide aufeinander zu bewegen. Wenn sich niemand bewegt, dann werden wir diesen Normenkonflikt im Rahmen unserer eigenen Rechtsordnung, nämlich mit einer entsprechenden Verfassungsanpassung, auflösen müssen."
    Darüber was für eine "Verfassungsanpassung" denkbar wäre, schweigt Justizministerin Simonetta Sommaruga sich aus. Einige ihrer Kollegen spekulieren hingegen auf ein neues Machtwort des Volkes: Die Initiative "Raus aus der Sackgasse" ist mit dem Ziel angetreten, die Änderungen, die sich 2014 nach dem Volksentscheid gegen Masseneinwanderung ergeben haben, einfach wieder abzuschaffen.