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Schwelgen in Glamour-Rock-Sounds

In diesem Buch geht es um Songs und Bands, die einmal ein Leben oder zumindest einen Abend retten konnten. Es geht also um alles. Knapp 80 Autoren und Journalisten, die in den 60ern und 70ern das Licht der Discokugel erblickt haben, schreiben über Popmusikerlebnisse ihrer Jugendzeit.

Von Ulrich Rüdenauer | 19.08.2008
    Man würde wohl jeden für ignorant halten, der sich für Bücher interessiert und offen zugibt, dass er in seiner Jugendzeit mit Begeisterung den "Fänger im Roggen" gelesen hat, der weiteren Entwicklung der Literaturgeschichte aber nicht mehr viel habe abgewinnen können. In Bezug auf populäre Musik ist solch eine Haltung hingegen ganz normal: Pop wird von vielen fast ausschließlich als Lebensalterphänomen wahrgenommen. Die Lieblingsbands der Jugend drehen sich bis ins hohe Alter auf dem Plattenteller, wenn man nicht irgendwann in die Klassikabteilung wechselt. Popmusik dient als Vehikel, um relativ problemlos einen Trip in die Vergangenheit zu unternehmen. Der hoch geschätzte österreichische Autor Franzobel formuliert diese Haltung auf eine fast schon obszöne Weise:

    Die alten Nazis haben die Hitlerjugend, und wir haben den Pop, Pink Floyd, die Beatles und die Stones.

    Zu finden ist dieser gleich auf mehrfache Weise hinkende Vergleich in dem von Thomas Kraft herausgegebenen Band "Beat Stories", der als eine "literarische Liebeserklärung an die beste Musik aller Zeiten" beworben wird. Womit eben die Musik der 1960er und -70er Jahre gemeint ist, die Musik der Kindheits- und Jugendzeit von knapp 80 beteiligten Autoren, die zwischen 1946 und 1975 das Licht der Discokugel erblickt haben. Die Textsorten sind so unterschiedlich wie die jeweilige Popsozialisation: Es gibt kleine Erzählungen, autobiographische und essayistische Betrachtungen, kurze Liebesgeschichten mit einer Band und lebenslange Schwärmereien; meist wird recht harmlos in Beat-, Folk-, Hippie- und Glamrocksounds geschwelgt, manchmal aber auch sehr genau den Erschütterungen nachgespürt, die bestimmte Hörerlebnisse ausgelöst haben. So oder so: Hier hat der Fan das Wort, und meistens der Fan, der sich nur noch an sein Fantum erinnert.

    Ich bekenne also, in Bezug auf Bob Dylan ein Ewiggestriger zu sein. Mir wäre es lieber, wenn Dylan in der Geschichte der Populärmusik forever young geblieben wäre und das nicht nur, singend, behauptet hätte.

    Gesteht Jan Koneffke, der "seinen" Dylan bereits als Zuspätgeborener entdecken musste. Die private Rezeptionsgeschichte ist oft geprägt von großer Idealisierung und der Reduktion des Musikers auf eine Phase, die mit der eigenen Biographie kurzgeschlossen werden kann. Etliche Beiträger sind wahre Nostalgiker vor dem Herrn. Es wird dementsprechend auch viel geweint beim Wiederhören der alten musikalischen Helden. Und verklärt. Und Stehblues getanzt. Der Literaturkritiker und Literaturhausleiter Rainer Moritz, ein notorischer Schlagerfan, hielt es seinerzeit mit dem heute nicht ganz zu Unrecht fast vergessenen Lobo:

    Mit Lobos getragenem "I'd Love You To Want Me" bot sich – nicht das Wenigste, was zu dessen Vorteil gesagt werden kann – eine gute Gelegenheit, dem weiblichen Geschlecht näher zu kommen, als es im hundsnormalen Alltag statthaft war. Denn bei Vöhringer-Fenske, der Tanzschule in der Heilbronner Gymnasiumsstraße, kam man nicht umhin, diesen Hit wieder und wieder zu spielen, bei den Partys am Samstag Abend oder Sonntag Nachmittag. Eine Ballade, sicherlich, und doch vor allem ein Stehblues, ein Klammerblues, wie das andernorts unschönerweise hieß.

    "Unsere Musik", wie Thomas Kraft im Ton des Generationen-Sprechers im Vorwort schreibt, wird hier meist als immer wieder aktualisiertes, historisches Erbe verwaltet. Dabei wäre es durchaus reizvoll, nicht nur etwas darüber zu lesen, wie die erste eigene Platte ihren Weg ins Kinderzimmer fand und für frische Luft im Schlagerparadenmuff der elterlichen Wohnung sorgte, sondern auch darüber, wie Pop die beiden vertretenen Autorengenerationen und vielleicht auch ihr Schreiben auf vielfältigste Weise geprägt hat. Wenn es denn einen Einfluss gibt. Stilistisch sind viele Texte allerdings leider nicht aufregender als die schlimmeren der Gegenstände, von denen sie handeln – Smokie, Peter Frampton oder Donovan.
    Einschneidende Momente der eigenen Biographie sind, das zumindest lernen wir, oft mit Songs verknüpft: Jahreszeiten und Begegnungen, Liebschaften und Aufbrüche. Matthias Politycki, der ja schon früher gerne von einer Literatur träumte, die wie Rockmusik sein sollte, und wesentlich am Mini-Mythos der 78er-Generation mitbastelte, formuliert das so:

    Die Zeit der Übergänge, der Umbrüche ist immer die schwerste, alte Selbstverständlichkeiten brechen weg, neue sind noch lang nicht in Sicht, es fehlt an allem, vornehmlich an Wegweisendem, und erst recht, wenn man ein unbeholfen drauflos pubertierender Kleinmann im Niemandsland des Münchner Landkreises ist. (…) Zu alt für Creedence Clearwater Revival, zu jung für Led Zeppelin – da brachen Alvin Lee & Company in die Weltabgeschiedenheit des Münchner Landkreises, und plötzlich war nicht alles, aber etwas Wesentliches wieder gut.

    Rock'n'Roll saved nicht nur Matthias Polytickis Leben in der bayerischen Provinz. Manche, wie der Verleger Manfred Metzner, der in den swingenden Sechzigern als Schüler nach London reisen durfte, kamen auch an den Brutstätten der Popmusik mit dieser in Berührung: Metzner erzählt von einem Sommer, der noch einer war – weil nicht Rudi Carrell darüber sang, sondern The Lovin' Spoonful.
    Eine der Wirkungen der Popmusik, neben der ersten Verdichtung ästhetischer und biographischer Erfahrungen, ist natürlich immanent politisch – auch wenn bei vielen Hörern nicht gleich eine grundlegende Politisierung eingesetzt hat. Ein Aspekt, der beim diesjährigen 68er-Klassentreffen seltsam unterbelichtet geblieben ist: Dass die emanzipatorische Wirkung des Hüftschwungs von Elvis und die brennende Gitarre von Jimi Hendrix wahrscheinlich mehr in Bewegung gebracht haben, als die Rede eines SDS-Häuptlings oder später die zermürbenden Selbstzerfleischungsdiskussionen in den K-Gruppen.

    Rock war unterm Strich das Einzige, was unserer pubertären Verwirrtheit und provinziellen Unwissenheit eine Gestalt geben konnte. Und wie man etwa beim Alkohol nicht daran interessiert war, wie gut die eine Biersorte im Vergleich zur anderen schmeckte – das Connaisseurhafte ist ja eine Alterserscheinung -, sondern ob man schnell und billig davon betrunken werden konnte, so suchten wir uns auch unsere Musik danach aus, ob man möglichst schnell und unkompliziert ein Gefühl von Freiheit und Entgrenzung und trotzdem Zusammengehörigkeit herstellen konnte.

    Schreibt der Musikjournalist Karl Bruckmaier, die Jugenderfahrung mit Pop auf den Punkt bringend.
    Spannend an diesem konzeptuell durchaus lohnenswerten, aber nicht immer lesenswerten Band sind vor allem die Geschichten derjenigen, von denen man ahnt, dass sie musikalisch nicht in ihrer Pubertät stecken geblieben sind, für die nicht immer wieder die Doors ein bisschen Existenzialismus oder Genesis Frickelsounds in ihr popkulturelles Triebleben bringen müssen.
    Überraschend ist, dass schwarze Musik in dieser Oldie-Jukebox bis auf wenige Ausnahmen fehlt. Und frappierender noch, dass für kaum einen der – meist männlichen – Autoren der eigentliche Bruch mit dem Authentizitätsrock der Hippie-Ära eine Rolle zu spielen scheint: Punk findet in diesem Buch eigentlich nicht statt – obwohl Punk mit all seinen Vorläufern und Nachfahren doch erheblich zu einer neuen Sichtweise auf Popmusik beigetragen hat.

    Zumindest aber gibt es doch auch Positionen wie etwa die von Thomas Meinecke: Er weist am Beispiel von Roxy Music auf die "beunruhigende Künstlichkeit", auf die "Gemachtheit der Popmusik als ihre große Stärke" hin. Pop in diesem aufgeklärten Sinne wäre eben nicht nur ein taugliches Instrument, beim Tanzen "dem weiblichen Geschlecht näher zu kommen", sondern auch ein komplex-codiertes Kunstwerk.

    Thomas Kraft (Hrsg.): Beat Stories.
    Blumenbar Verlag. München 2008. 384 S. 19,90 Euro.