Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Schwere Mängel bei Anis Amri Ermittlung
Schlamperei, Vertuschung, Manipulation

Der Terroranschlag mit zwölf Toten am Berliner Breitscheidplatz hätte verhindert werden können. Zu diesem Ergebnis kommt der Sonderermittler in seinem Bericht: Behördenversagen, Schlampereien und grobe Fehler bei den Sicherheitsbehörden seien dafür verantwortlich. Er regt einen Untersuchungsausschuss an - im Fall Amri wäre das schon der dritte.

Von Manfred Götzke | 12.10.2017
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (2.v.l, gedenkt mit Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed (3.v.l)am 14.02.2017 in Berlin am Breitscheidplatz der Opfer des Anschlags vom 19. Dezember 2016.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (2.v.l, gedenkt mit Tunesiens Ministerpräsident Youssef Chahed (3.v.l) in Berlin am Breitscheidplatz der Opfer des Anschlags vom 19. Dezember 2016. (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    Hätte Anis Amri vor dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz aus dem Verkehr gezogen werden können? Mit dieser Frage hat sich der Sonderermittler des Berliner Senats Bruno Jost befasst. Und er kommt in seinem Abschlussbericht zu einem ziemlich eindeutigen Ergebnis:
    "Es gibt keine mathematische Gewissheit, dass man Amri hätten festnehmen können, aber es hätte, wenn alles gut gelaufen wäre, eine reelle Chance gegeben."
    Dass diese Chance vertan wurde, dafür macht der frühere Bundesanwalt Behördenversagen, Schlampereien, grobe Fehler bei den Sicherheitsbehörden verantwortlich.
    Observierung "von 11 Uhr vormittags bis 17 Uhr nachmittags"
    Zum Beispiel bei der Observation Amris durch die Berliner Sicherheitsbehörden. Anis Amri wurde schon zu Beginn des Jahres 2016 als islamistischer Gefährder geführt und entsprechend überwacht. Zunächst versuchten Ermittler, Indizien für Anschlagspläne Amris zu finden. Da das nicht gelang, fokussierten sie sich auf die Art, mit der Amri seinen Lebensunterhalt verdiente. Er dealte mit Drogen. Die Idee war, ihn wegen Bandenmäßigen Drogenhandels in Untersuchungshaft zu nehmen. Allerdings wurde er für die neue Strategie falsch observiert, so Jost:
    "Was sich zum Beispiel daran zeigt, dass Amri von 11 Uhr vormittags bis 17 Uhr nachmittags oberviert wurde, aber nicht wie es bei einem nachtaktiven Drogenhändler nötig wäre, in den Nachtstunden und auch an den Örtlichkeiten, wo ein Drogenhändler aktiv ist, am Görlitzer Park oder so. Da hat nichts stattgefunden."
    Dennoch kam eine Beamtin in einem Bericht zu dem Schluss. Die Indizien könnten für einen Haftbefehl wegen bandenmäßigen Drogenhandels reichen. Hier geschah ein weiterer grober Fehler. Ihr Bericht wurde nie an die Staatsanwaltschaft weiter gereicht, die Observation Amris abgebrochen. Der spätere Attentäter konnte sich so unbehelligt in Deutschland bewegen.
    Sie sehen den Sattelschlepper, mit dem der Anschlag verübt wurde, Arbeiter befestigen ihn am 20.12.2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin an einem Abschleppwagen.
    Der Sattelschlepper, mit dem der Anschlag verübt wurde; Arbeiter befestigen ihn am 20.12.2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin an einem Abschleppwagen. (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Ein Kriminalbeamter "verfasst einen weniger brisanten Bericht"
    Der Sonderbeauftragte Jost fand sogar heraus, dass ein Kriminalbeamter nach dem Terroranschlag einen weniger brisanten Bericht verfasste, er machte aus einem gewerbsmäßigen Drogendealer einen Kleinstkriminellen, was suggerieren sollte: Haftbefehl unmöglich.
    "Man muss also davon ausgehen, dass, wenn in dieser Führungsinformation von Klein- und Kleinsthandel die Rede war, sich das nicht auf die Erkenntnisse aus den polizeilichen Datenbanken gestützt haben kann."
    Der Beamte datierte diesen Bericht auf den Sommer 2016 zurück – zur Schlamperei gesellte sich Vertuschung und Manipulation.
    Das BKA hatte "versäumt, Informationen weiter zu geben"
    Ein Polizeiwagen fährt an den Räumlichkeiten des Moschee-Vereins "Fussilet 33" in der Perleberger Straße in Berlin vorbei.  Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
    Anis Amri war häufig zu Gast in der Moschee in Berlin-Moabit, sie wurde geschlossen, der Verein "Fussilet 33" verboten. (picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Eine weitere Chance, den Anschlag zu verhindern, wurde durch die gescheiterte Abschiebung Anis Amris vertan. Am 30. Juli 2016, einen Monat nach der Ablehnung seines Asylantrags, hatte die Bundespolizei den Tunesier bei einer Kontrolle in Friedrichshafen aufgegriffen. Doch er wurde aus der Abschiebehaft wieder entlassen: Die Behörden glaubten, keine Handflächenabdrücke Amris genommen zu haben. Die wären für die entsprechenden Unterlagen aus Amris Heimat Tunesien nötig gewesen. Doch diese Abdrücke lagen vor – sogar zweimal. Hier hatte es das BKA versäumt, Informationen weiter zu geben. Auch hier hätte man Amri also verhaften können, konstatiert Bruno Jost.
    "Es hätte aus meiner Sicht die Chance bestanden, Amri in Friedrichshafen festzunehmen und auch in Haft zu behalten. Dass das nicht geschehen ist, ist in hohem Grade bedauerlich und für mich auch nicht sehr verständlich."
    Anregung für einen Untersuchungsausschuss: der 3. im Fall Amri
    Berlins Innensenator Andreas Geisel, der Josts Bericht in Auftrag gegeben hat, mahnt deutliche Konsequenzen an. Mehr Kooperation, mehr Koordination:
    "Wir brauchen eine viel stärker vernetzte Kommunikation und Kooperation zwischen den Ländern und zwischen den Ländern und dem Bund. Das gilt auch für die Aufklärung des Anschlags. Ich rege deshalb einen Untersuchungsausschuss im Bundestag an."
    Für den Fall Amri wäre das dann Untersuchungsausschuss Nummer drei.