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Schwerpunktthema: Weltmacht China

Ökonomisch hat sich China gegenüber der Welt geöffnet, politisch jedoch mauert das kommunistische Regime weiterhin. An der Evangelischen Akademie im Rheinland berichten China-Experten verschiedener Disziplinen, wie es hinter den Kulissen ausschaut.

Von Peter Leusch | 07.06.2012
    "Wenn man bei uns immer die Ostküstenstädte Chinas, die Glitzerfassaden, die Metropolen sieht, sollte man sich klarmachen: Es gibt ein sehr großes, weites Hinterland, wo noch viel Armut herrscht, wo China sehr viele Merkmale eines Entwicklungslandes hat","

    Anja Senz, Politologin vom Konfuzius-Institut an der Universität Duisburg-Essen.

    ""China als Land - auch die Menschen dort, die Kultur, die Natur, - alle leiden unter diesem kommunistischen Regime","

    Xu Pei, chinesische Menschenrechtsaktivistin, in Deutschland im Exil.

    ""Es gibt formal keine unabhängigen Medien, Chefredakteure werden benannt oder gefeuert, das Ganze erhöht den Druck zur Selbstzensur, zur Schere im Kopf","

    Sven Hansen, Asien-Redakteur der Tageszeitung, der "TAZ".

    ""Trotz aller Erfolge und trotz der großen Devisenreserven, die China angehäuft hat, ist es zwar freier als früher, aber es ist noch nicht in einer Situation, dass es seinen Bürgern die große Freiheit an Bürgerrechten zugestehen kann, man kann nur hoffen, dass das bald erreicht wird","

    Helwig Schmidt-Glintzer, Sinologe, Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel.

    China polarisiert. Die Meinungen gehen auseinander. Und wer über China spricht, greift zu Superlativen und Extremen: bevölkerungsreichstes Land der Erde, Exportweltmeister und zweitgrößte Volkswirtschaft, gigantischer kapitalistischer Absatzmarkt und letzte kommunistische Großmacht, autoritäre Zentralgewalt und Vielvölkerstaat.

    Dieses China kann niemand länger ignorieren: Das Reich der Mitte ist spätestens im Zuge der Globalisierung auch in der Mitte des Weltgeschehens angekommen. Aber wohin führt der weitere Weg? Wird China künftig die USA als Weltmacht ablösen? Helwig Schmidt-Glintzer ließ in seinem Vortrag Chinas jüngere Geschichte Revue passieren. 1912, vor exakt 100 Jahren endete das Jahrtausende alte Kaiserreich, China wurde eine Republik, suchte einen Weg in die Moderne. Doch die junge Republik war uneins und ohnmächtig, ein Spielball der europäischen Kolonialmächte und vor allem Japans.

    ""China war damals in der Hand unterschiedlicher regionaler Militärmachthaber, deswegen hat auch Sun Yatsen, der erste Präsident, gleich die erste Präsidentschaft an den stärksten weitergegeben, der sollte die Republik nach vorne bringen, aber China kam nicht nach vorn, sondern es ging noch weiter abwärts, und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts rang man nach neuen Wegen, aber fand keinen Ansatzpunkt. Der begann erst mit der Übernahme der Macht durch die kommunistische Partei und hat dann in den ersten Jahrzehnten viele Erschütterungen erlebt, und eigentlich erst in den 80er-Jahren, also seit etwas über 30 Jahren geht es mit China wirklich richtig aufwärts, bis dahin ging es immer nur abwärts."

    Während der kommunistische Ostblock über den vergeblichen Reformbemühungen Gorbatschows, und vor allem unter dem Freiheitswillen der Menschen zusammenbrach, wählte das Regime in Peking 1989 die blutige Lösung, ein Massaker an der eigenen Bevölkerung: Auf den Straßen rund um den Tien’anmen-Platz schossen Panzer die demonstrierenden Studenten zusammen. Das Massaker von 1989, das sich am 3. und 4. Juni erneut jährte, ist in China Trauma und Tabu zugleich. Nur in Hongkong gibt es alljährlich Demonstrationen, die sich über das Verbot hinwegsetzen und an Tien’anmen erinnern.

    1992 entschloss sich die Pekinger Führung zu einem radikalen wirtschaftlichen Kurswechsel, weg von der sozialistischen Plan- hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft, genau wie die Länder des ehemaligen Ostblocks. Aber während die postkommunistischen Staaten Osteuropas Demokratie und Marktwirtschaft gemeinsam und beides auf schnellem Weg einzuführen versuchten, wählte China einen längeren Transformationsprozess. Den heutigen Wirtschaftsboom Chinas vor Augen, fragt man sich, wie diese ökonomische Umwälzung im weiterhin kommunistischen System überhaupt gelingen konnte. Marion Schüller, Volkswirtschaftlerin vom Hamburger GIGA-Institut für Asien-Studien erläutert die Umgestaltung am Beispiel der Preispolitik.

    "Es gab das so genannte duale Preissystem, das heißt beispielsweise für die Produktion der Unternehmen staatlich festgelegte Fixpreise, und wenn über die Quoten hinaus von dem Unternehmen produziert wurde, konnten sie dies zu Marktpreisen verkaufen. Ähnlich war das in der Landwirtschaft, dies stellte einen besonderen Anreiz da die Produktion zu erhöhen. Dieses System ist im Laufe der Zeit abgeschlossen worden und heute sieht es so aus, dass für den überwiegenden Teil aller Konsumgüter freie Marktpreise gelten, also staatlich festgelegte Preise gibt es nur noch in bestimmten Bereichen, um zum Beispiel im Nahrungsmittelbereich."

    Seit der wirtschaftlichen Öffnung ist China ein begehrter internationaler Unternehmensstandort wegen des niedrigen Lohnniveaus, insbesondere für arbeitsintensive Branchen. Die Textilindustrie zum Beispiel verließ Südeuropa. Ihre Arbeitsplätze wanderten über Nordafrika weiter nach Asien, vor allem nach China. Während in den prosperierenden Küstenregionen Chinas die Löhne allmählich steigen, ziehen manche Unternehmen bereits weiter nach Vietnam und Kambodscha. Oder aber sie folgen der Go-West-Strategie der chinesischen Regierung und verlagern ihre Produktion ins riesige Hinterland.

    Die Industrialisierung ebenso wie der wachsende Konsum, die rasante Motorisierung – ein Volk der Radfahrer steigt um aufs Auto – schüren den Bedarf nach immer mehr Energie. Zwar entwickelt China auch erneuerbare Energien und man ist mitführend in der Solarindustrie, aber die nachhaltige Energiewirtschaft kann nicht so rasch nachwachsen, wie der Bedarf in die Höhe schnellt. Deshalb gehen ständig neue Kohlekraftwerke ans Netz und der klimaschädliche CO2-Ausstoß nimmt zu. Die Umwelt zahlt den Preis für Chinas Wirtschaftsboom.

    "Ganz grundsätzlich muss man sagen, dass die ökologischen Herausforderungen in China gravierend sind und auch die Kosten der Umweltzerstörung werden geschätzt, dass sie in etwa so hoch sind wie das jährliche Wirtschaftswachstum und wenn man die verschiedenen Umweltprobleme sich anschaut, dann muss man sagen - im Bereich von Boden: die sinkende Bodenqualität, der Verlust von Ackerland genauso wie die Frage der Erosion, Wüstenbildung - und im natürlichen Bereich von Wasser: die Verschmutzung und Austrocknung von Flüssen, auch sinkende Fischbestände und der Mangel an sauberem Trinkwasser."

    Die Politologin Anja Senz vom Konfuzius Institut, das der Universität Duisburg-Essen angeschlossen ist, hat mehrere Feldstudien in Dörfern Chinas durchgeführt und die sozialen Folgeprobleme der Umweltschäden aufgedeckt.

    "Es bedeutet, dass viele Bauern aufgrund der Verschmutzung des Ackerlandes keine Einkommensquelle mehr haben, weil sie das von ihnen Produzierte, die Erträge, nicht mehr veräußern können, weil die ungenießbar werden, und dass sie damit ihre Einkommensquelle verlieren. Es gibt Schätzungen, dass pro Jahr circa zehn Millionen Bauern aufgrund dieser Umweltdegradation unter die Armutsgrenze zurückfallen.""

    Weil ihre Äcker verkarstet sind, anderswo auch, weil die gestiegene Produktivität in der Landwirtschaft sie überflüssig gemacht hat, verlassen immer mehr Bauern ihre Heimat. So ist ein gewaltiges Heer von Wanderarbeitern und -arbeiterinnen entstanden - 150 bis 225 Millionen, so die offiziellen Zahlen, inoffizielle Schätzungen sprechen von 300 Millionen. Diese Wanderarbeiter stellen jene industrielle Reservearmee, wie Marx das nannte, die der Wirtschaftsboom an sich zieht und ausbeutet.

    ""Der wirtschaftliche Boom in den Provinzen ist dadurch möglich gewesen, dass immer mehr Menschen auch als Arbeitskräfte zur Verfügung standen, die fanden sich in den Provinzen so nicht. Diese Menschen, die dort arbeiteten, kamen vor allem aus dem Landesinnern, also aus dem ländlichen China, die dort eben auf ihren kleinen Grundstücken, auf ihren kleinen bäuerlichen Anwesen kaum Existenzsicherungsperspektiven hatten und Einkommen in den Städten suchten und dort eben unter anderem in die Exportindustrie gegangen sind."

    Die Soziologin Sabine Ferenschild forscht beim Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene, einer Einrichtung, die sich für wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit weltweit engagiert, zum Beispiel mit der aktuellen Ausstellung "China in Bewegung" – die die schwierige Situation der Wanderarbeiter thematisiert.

    "Das sind Binnenmigranten und Migrantinnen, die sehr häufig, gerade wenn es Frauen sind, in der Exportindustrie auf Mindestlohnniveau arbeiten, und das heißt dann auch heute noch, dass sie deutlich weniger verdienen als das, was zu einem menschenwürdigen Dasein nötig ist, ein Auskommen können diese Menschen nur erzielen, wenn sie unzählige Überstunden ableisten oder eben im Akkord arbeiten."

    Die chinesische Binnenmigration erinnert an die Lage der Gastarbeiter im Deutschland der 50er- und 60er-Jahre, sie hat Züge einer Zweiklassengesellschaft von Arbeitnehmern. Die angestammten städtischen Arbeiter hätten Privilegien, erklärt Marion Schüller, denn nur sie seien sozialversichert.

    "Die Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten, die ländlichen Arbeitsmigranten, sollten jetzt inzwischen so etwas auch bekommen, man möchte eigentlich einen einheitlichen Arbeitsmarkt mit gleichen Rechten, de facto ist es so, dass diese Arbeitskräfte aus den ländlichen Gebieten nicht dieselben Rechte haben, das heißt, sie sind nicht in diese soziale Sicherung eingebunden und oftmals ist es auch so, dass sie sich nicht wehren können, wenn es beispielsweise zu Lohnkonflikten kommt oder zu anderen Problemen, das heißt, sie sind dann nicht abgesichert durch irgendeine Vertretung, durch Gewerkschaften usw."

    Ganz China ist im Umbruch: Wirtschaftsdynamik, Umweltprobleme und Migration führen zu sozialen Spannungen, die von der Öffentlichkeit im Ausland nicht registriert werden.

    "Man kann sagen, dass China im Prinzip erst einmal gekennzeichnet ist von vielen Interessen und Verteilungskonflikten in diesem Zusammenhang, und diese Konflikte äußern sich unter anderem in Protesten, die sich in den letzten 15 Jahren, sagt man, verzehnfacht haben. Es gibt immer mehr Zwischenfälle, das Spektrum reicht von friedlichen Beschwerden einerseits, Versammlungen, Blockaden, geht aber auch in Richtung Protestmärsche bis hin zu Aufständen und teilweise auch gewalttätigen Auseinandersetzungen."

    Es geht um Bodenrechte, um Umweltprobleme, aber auch um Korruption und Willkür. Zivilgesellschaftliche Initiativen sind von staatlicher Seite durchaus erwünscht. Es gibt Gruppen, die sich um HIV-Infizierte kümmern oder um Gesundheitsfragen, auch lokale Proteste zum Beispiel bei Umweltverschmutzung haben eine Chance auf Gehör, aber es gibt einen kritischen Punkt.

    Alles, was ins Politische zielt, was die Zentralregierung angreift und den Herrschaftsanspruch der kommunistischen Partei infrage stellt, wird mit härtesten Sanktionen belegt. An diesem Punkt werden Regimekritiker wie der Künstler Ai Wei Wei rücksichtslos verfolgt und kriminalisiert, klagt die chinesische Menschenrechtsaktivistin Xu Pei.

    "Ai Wei Wei wurde zuerst einmal 81 Tage lang isoliert, quasi auch gefoltert, zumindest psychisch gefoltert, und dann durfte er nach Hause gehen, und zwar nur unter dem internationalen Druck, seitdem lebt er in Hausarrest und er wird von - ich weiß gar nicht wie vielen - Kameras überwacht. Aber er hat sich damit abgefunden, indem er weiter twittert und auch sagt, was ihm einfällt, aber er kann zum Beispiel nicht das größte Tabu in China Falun Gong erwähnen, bei ihm gibt es auch Grenzen, die er lieber nicht überschreitet."

    Falun Gong ist eine religiöse Bewegung, die seit 1999 in China politisch verfolgt wird. Aber noch vor Falun Gong rangieren absolute Tabu-Themen: die drei großen Ts: Tibet, Taiwan und Tien’anmen dürfen in den Medien nicht angesprochen werden. China unternimmt enorme Anstrengungen, solche Rede- und Denkverbote durchsetzen. Relativ einfach gelingt die Zensur in den klassischen Printmedien, wo die Partei direkt ins Chefredakteurszimmer der Zeitung hineinregiert. Und auch beim Fernsehen hat die Zensur spezielle Vorkehrungen getroffen:

    "Bei Livesendung im Fernsehen gibt es zum Beispiel Zeit verzögertes Senden um ein paar Sekunden, das heißt, wenn irgendetwas Unliebsames passieren sollte, kann man noch eingreifen, ausländische elektronische Medien sind hauptsächlich nur in großen internationalen Hotels zu sehen, auch da werden die Bildschirme geschwärzt, wenn zum Beispiel über Gedenkveranstaltungen zum Tien’anmen Massaker in Hongkong berichtet wird."

    Sven Hansen, lange Zeit als Korrespondent in Hongkong tätig, heute Asien-Redakteur der "TAZ", hat die Zensurmechanismen Chinas unter die Lupe genommen. Vor allem beim Internet bieten sich viele Möglichkeiten, die Zensur auszutricksen. Hier findet ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel statt, zwischen kritischen Geistern und den bestallten Internetwächtern des Regimes. Ausländische Webseiten, die solche Dienste wie Facebook, YouTube, Google anbieten, sind ohnehin geblockt und nur auf Umwegen für technisch versierte zugänglich. Einheimische Betreiber von Portalen werden von der Regierung gezwungen, selber Zensoren einzustellen und entsprechende Filtersoftware zu installieren.

    "Filtersoftware sucht in Mails und Blocks nach Suchworten, die auf dem Index stehen, die sind fließend, das heißt, ein Begriff der heute völlig problemlos ist wie ‚Sonnenbrille‘, der ist plötzlich auf dem Index, weil ein Bürgerrechtler der blind ist, und deshalb eine Sonnenbrille trägt, zur Hauptnachricht wurde, und diese Nachricht ist dem Regime peinlich und deswegen stehen Umschreibungen dieses Bürgerrechtlers, den man dann als ‚Sonnenbrille‘ bezeichnet oder auch anders, plötzlich auf dem Index."

    Neue soziale Medien wie Weibo, das chinesische Pendant zu Twitter, können sehr wohl die staatliche Zensur unterlaufen. Das zeigte sich im vergangenen Jahr, als die Informationen von einem Zugunglück längst per Weibo verbreitet waren, bevor die Behörden den Unfall wie üblich vertuschen oder kleinreden wollten. Dennoch glaubt Sven Hansen nicht, dass die Existenz der elektronischen Medien in China geradewegs zu einem demokratischen Umsturz wie in Nordafrika führen könnte.

    Chinas Zukunft ist ungewiss, sein Einfluss auf das Weltgeschehen ebenso. Trotz seiner Rüstungsanstrengungen stellt China auf absehbare Zeit keine militärische Weltmacht dar. Man hat auch keine Truppen nach Afghanistan geschickt, sondern mit dem Land ein Kooperationsabkommen geschlossen, um sich die Rohstoffe im Kupferminenabbau zu sichern. Xu Peis Urteil über das moderne China ist dennoch vernichtend:

    "Das kommunistische Regime ist ein Modell à la Sowjetunion, und das hat mit der chinesischen Kultur überhaupt nichts zu tun, deswegen rede ich auch von der kommunistischen Unkultur."

    Im Gegensatz zum moralischen Rigorismus, der Xu Pei leitet, urteilen die westlichen Forscher und China-Kenner der Tagung vorsichtiger und abwägender: Hao Gui, Leiter der Asien-Programme bei der Deutschen Welle, warnt vor Pauschalurteilen, betont, dass man aufgrund der Vielfalt und Komplexität Chinas jedem positiven Beispiel ein negatives entgegenstellen könnte und umgekehrt. Und darin stimmen ihm andere Referenten zu. Helwig Schmidt Glintzer erinnert an die alte, tief sitzende Angst vor der gelben Gefahr und ruft zu mehr Gelassenheit auf:

    "China war früher ein Gigant, einfach aufgrund der Größe und der Bevölkerungsdichte ist es ein wichtiges Land auf dieser Erde, und jetzt sind wir so überrascht, dass wir es plötzlich so wichtig nehmen müssen, wie es eigentlich hat immer schon wichtig genommen werden müssen, und diese Situation ist noch nicht richtig austariert, man kann nur hoffen, dass das bald erreicht wird."