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Schwerpunktthema: Wir gehen für dich durchs Feuer!

Fußballfans sind immer wieder im Fokus der Medien - positiv wie negativ. Insbesondere die sogenannten Ultras sorgten zuletzt für Schlagzeilen. Dabei ist die Kultur der Fans wissenschaftlich kaum untersucht. Eine Tagung in Würzburg will dem entgegenwirken.

Von Peter Leusch | 17.01.2013
    Fußball-Bundesliga. Am Wochenende rollt der Ball. Und das populärste Spiel der Welt schlägt die Menschen in seinen Bann. Zehntausende Anhänger pilgern in die Stadien, die treuesten unter ihnen reisen bei Auswärtsspielen quer durch die Republik, um ihre Mannschaft anzufeuern, um ihren Verein zu feiern. Doch diese Fans sorgen auch für negative Schlagzeilen: Verbotene Feuerwerkskörper, rassistische Schmährufe und gewalttätige Auseinandersetzungen. Nachdem im Herbst die Zahl der Verletzten angestiegen war, drängte die Politik die DFL, das ist der Ligaverband der deutschen Profifußballklubs, und die Vereine, sich auf ein neues Sicherheitskonzept mit schärferen Sanktionen zu verpflichten. Mitte Dezember, am 12. 12., ist dieses Sicherheitspapier verabschiedet worden.

    Boris Haigis: "Die Fans kritisieren hier natürlich häufig, dass der Verein sie damit verraten hat, indem er diesem Konzept zugestimmt hat. Nichtsdestotrotz muss man an dieser Stelle festhalten, dass vieles was ursprünglich angedacht wurde, in diesem Papier nicht umgesetzt wurde, problematisch ist nach wie vor diese Möglichkeit der Ganzkörperkontrollen, und problematisch ist auch die Möglichkeit für Vereine, das Kontingent der Gästetickets zu reduzieren im Vergleich zur bisherigen Rechtslage."

    Der Würzburger Jurist Boris Haigis hat sich auf Sport und Recht spezialisiert. Der Hobbyfußballer berät und vertritt auch Fußballfans in Strafrechtsangelegenheiten.

    "Es haben ursprünglich Kollektivbestrafungen da drin gestanden, es war ursprünglich drin gestanden, dass die Fans letztendlich für ihre Vereine die Haftung übernehmen sollten. Es war eine Anhebung von Stadionverboten von bisher drei auf bis zu 10 Jahre dringestanden, all solche Punkte, und das wurde alles jetzt nicht umgesetzt und das ist mit Sicherheit auch auf das Engagement der Initiative 12:12 zurückzuführen, die ihren Protest friedlich drei Spieltage lang aufrechterhalten haben, und somit auch ein Zeichen gesetzt, dass die Fans im Fußball wichtig sind und Gehör finden müssen."

    Ende November haben die Fans in bundesweiter und vereinsübergreifender Solidarität an drei Spieltagen 12 Minuten und 12 Sekunden lang jedes Stadion in Schweigen gehüllt und mit dieser quälenden Stille sich womöglich Gehör verschafft und sinnfällig gemacht, dass sie nicht primär ein Problem darstellen, nicht lästige Querulanten sind, die man möglichst loswerden sollte, sondern dass sie ganz zentral zum Stadionerlebnis, zum Fußballspiel und seiner Faszination hinzugehören.

    Die Faszination des Fußballs, der schönsten Nebensache der Welt, ist altbekannt, ergründet aber ist sie immer noch nicht. Warum fasziniert dieses Ballspiel derart, dass weltweit so viele Menschen zu Fans werden. Harald Lange, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, wählt für seine Analyse das jetzt schon legendäre Tor von Zlatan Ibrahimovic, das der schwedische Nationalspieler im letzten November in einem Länderspiel gegen England erzielte. Der englische Torwart war aus seinem Strafraum herausgelaufen, köpfte den Ball zurück über den heranstürmenden Ibrahimovic. Der gelangte dennoch an den Ball und hätte ihn, nun mit dem Rücken zum Tor, routiniert zu einem Mitspieler passen können. Stattdessen wagte Ibrahimovic aus 25 Meter Entfernung einen akrobatischen Fallrückzieher - und traf ins Tor.

    Harald Lange: "Ibrahimovic hat als Erster die Situation erkannt und im gestalterischen Sinne reagiert, einen Fallrückzieher angesetzt, der in dieser Form noch nie da gewesen ist und nie wieder kommen wird, es war eine einzigartige Situation dadurch, man könnte sagen genialisch."

    Harald Lange greift bei der Analyse der Spielszene zu den Kategorien der philosophischen Ästhetik. Ibrahimovic erkennt die sich bietende Chance und findet eine kreative Lösung. Mit anderen Worten ihm gelingt philosophisch gesagt, die Einheit von Wahrnehmung und Gestaltung. Und das definiert Schönheit, die den Fußballinteressierten entzückt und in Bann schlägt.

    Harald Lange geht noch weiter. Er erklärt, dass die aristotelische Lehre des Theaters auch für das Fußballspiel Gültigkeit besitze. Zum Beispiel, was Aristoteles den dramatischen Wendepunkt der Tragödie, die Peripetie, nennt. In Fußballsprache übersetzt ist das die Schlüsselszene, jener Moment, in dem ein Spiel kippt.

    "Man denke da beispielsweise an das Länderspiel Deutschland:Schweden, vor drei, vier Monaten, wo die deutsche Mannschaft 4:0 geführt hat, im Grunde sehr schön gespielt hat, mit viel Lust mit viel Freude, und plötzlich, warum auch immer war, dieser Wendepunkt da und das Spiel ist am Ende - auch dank Ibrahimovic - 4:4 ausgegangen, was an sich unmöglich ist, und dieses Spiel wäre ein weiteres Beispiel, woran Aristoteles zweifellos eine Riesenfreude gehabt, das gewissermaßen als Empiriker in seine Überlegungen mit einzubeziehen."

    Harald Lange adelt das Fußballspiel, wenn er das vormals als Proletenschauspiel geschmähte Fußballmatch in eine Reihe mit Kunst und Theater stellt. Freilich ist das seine geisteswissenschaftliche Sicht auf Fußball und Fan-Sein.
    Die sozialwissenschaftliche Analyse hingegen schaut auf konkrete gesellschaftliche Gruppen. Hier machen seit den 90er-Jahren die sogenannten Ultras von sich reden. Steven Adam von der Universität Bochum hat in seiner sozialwissenschaftlichen Diplomarbeit die Ultrabewegung näher untersucht, und dafür exemplarisch mit den Mitgliedern von zwei verschiedenen Ultragruppen intensive Gespräche geführt:

    "Generell hat sich gezeigt bei der Altersstruktur, dass das Eintrittsalter so bei 16 liegt, es gibt auch jüngere Mitglieder teilweise, und dass das Ende nach hinten offen ist, wobei vom generellen Phänomen der Ultrabewegung in Deutschland her gibt es nicht Mitglieder, die älter als Mitte bis Ende 30 sind."

    Als Ultras bezeichnet man die extrem fußballverrückten Anhänger eines Klubs. Mit ihrem schrillen Outfit, mit Fahnen und bengalischem Feuerwerk, mit ihren Schlachtgesängen, die sie zu regelrechten Choreografien ausgearbeitet haben, dominieren die Ultras heute die Fankurve im Stadion. Anders als die Hooligans der 70er- und 80er-Jahre, die auf Prügeleien mit gegnerischen Gruppen ausgerichtet waren, steht für die Ultras der Sport im Mittelpunkt. Allerdings distanzieren sich einige von ihnen nicht eindeutig von Gewalttätigkeiten. Mit Polizei und Stadionordnern geraten sie überdies regelmäßig wegen der Pyrotechnik in Konflikt, die in deutschen Stadien verboten ist. Steven Adam:

    "Generell muss man zu dem sozialen Hintergrund sagen, dass entgegen dem öffentlichen Bild vom Krawall suchenden Jugendlichen es doch häufig Menschen sind mit höherem Bildungshintergrund, also sehr viele, die Abitur gemacht haben und studieren, aber es gibt natürlich auch welche, die den Hauptschulabschluss haben oder gar die Schule abgebrochen haben."

    In der Öffentlichkeit haben die Ultras das Image der Bad Guys, der bösen Jungs, gelten als bildungsfern, intolerant und gewalttätig, - dieses Zerrbild haben nicht zuletzt die Medien kräftig genährt. Es ist aber ein Kardinalfehler, über die Ultras pauschal zu urteilen, erklärt Helmut Spahn, langjähriger Sicherheitsbeauftragter des DFB und inzwischen Sicherheitschef für die WM 2022 in Katar. Spahn hatte über viele Jahre Kontakt zu etlichen Ultragruppen quer durch Deutschland und hat mit den Mitgliedern diskutiert. Spahn charakterisiert die Ultrabewegung als ein weites und heterogenes Spektrum:

    "Es gibt sicherlich sehr aktive, emotional dem Verein verbundene Ultragruppierungen, die sich auch sehr stark engagieren in dem Bereich von sozialen Projekten, die ganz spezielle Konzepte haben, um zum Beispiel Jugendliche aufzunehmen, die aktuell ihre Schule abgebrochen haben oder keinen Ausbildungsplatz haben - mit dem Ziel, sie in die Gruppe aufzunehmen und sie dazu zu bewegen, die schulische Ausbildung wieder aufzunehmen oder einen Ausbildungsplatz zu finden. Es gibt viele Mitglieder in Ultragruppierungen, die erfolgreiche Geschäftsleute sind oder die mit beiden Beinen im Berufsleben stehen, und die sich das eben auf die Fahnen geschrieben haben, genauso wie es Aktionen, Choreografien in dem Bereich Kampf gegen Rechtsradikalismus und Rassismus gibt, von vielen Ultragruppierungen."

    Helmut Spahn schildert aber auch Beispiele vom anderen Ende der Skala:

    "Da gibt es Organisationen, die sich so darstellen, wie wir das im Bereich der organisierten Kriminalität kennen, dass Personen nur aufgenommen werden, wenn sie eine Probezeit durchlaufen haben, in dieser Probezeit Mutproben oder Taten vollbringen müssen, indem man zeigt, ich bin berechtigtes Mitglied, und das sind eben nicht soziale Aktivitäten, etwas Positives, sondern da geht es um Überfälle auf Räumlichkeiten und Personen anderer Gruppierungen, um Raubdelikte, um das Rauben von Fan-Utensilien als Zeigen von Trophäen und dergleichen."

    Die gewaltbereiten und sogar kriminellen Ränder der Ultras belasten die Vereine, bei denen sich Fanbasis und Klubführung voneinander entfernen.

    Die Ultras betrachten sich selber als die wahren Fans des Vereins, als die Hüter seiner Identität, weil sie es seien, die dem Verein unverbrüchlich die Treue halten. Denn die Vereine, mindestens die Profiklubs, haben sich in moderne Wirtschaftsunternehmen verwandelt. Sie kaufen und verkaufen Spieler. Und diese Profis kommen und gehen, manche wechseln den Verein so leichthin wie das Trikot. Die Klubführungen bekennen sich zwar verbal zu den Fans, doch inzwischen sind Sponsoren, Werbeverträge, Fernsehgelder und lukrativen Vip-Lounges wichtiger geworden als die Fankurve mit den billigen Stehplätzen, die zwar für Stimmung, aber auch für Ärger sorgt. Steven Adam:

    "Dazu muss man wissen, dass bei den Einnahmen, die eine Bundesligamannschaft am Spieltag generiert, die Eintrittskartenverkäufe nur einen sehr geringen Teil ausmachen, und dass gleichzeitig bei diesem Teil die VIP-Bereiche bis zu 50 Prozent ausmachen, - während früher eine Stehplatzkarte maximal vielleicht zehn Euro gekostet hat, ist es teilweise so, dass bei Spitzenspielen diese bis zu 19 Euro aufgebläht werden, und da gibt es diese Aktion 'Kein Zwanni für nen Steher', dass dieses Fußballerlebnis gerade für Jugendliche, die nicht so viel Geld haben, oder für andere kaufkraftschwache Zuschauer bezahlbar bleibt."

    Das distanzierte Verhältnis von Klubführung und Fanbasis ist eine Erscheinung des modernen kommerzialisierten Fußballsports. Früher war das anders: Der Zeithistoriker Rudolf Oswald hat die Anfänge der Fußballfankultur zurückverfolgt. Vereinsfanatiker, wie man die Fans damals nannte, gab es schon im ausgehenden 19. Jahrhundert. Aber zu einem Massenphänomen wurde der Vereinsfanatismus erst in der Zwischenkriegszeit, sagt Rudolf Oswald:

    "Den Vereinsfanatismus der Zwischenkriegszeit basierte auf einer sehr stark ausgeprägten Identifikation des unmittelbar vor Ort Wohnenden mit dem im gleichen Ort, im gleichen Stadtteil, ansässigen Sportverein, zu dem man am Sonntag ging, und der andrerseits wiederum diese lokale Identität repräsentierte nach außen hin gegenüber den anderen Vereinen und gegenüber dem Verband und der dementsprechend bedingungslos zu unterstützen war."

    Bedingungslose Unterstützung bedeutete auch, dass die wiederholte Schmach einer Heimniederlage gegen Nachbarvereine nicht friedlich hingenommen wurde. Die zeitgenössischen Presseberichte, auf die sich Rudolf Oswald in seiner Analyse stützt, belegen, dass Ausschreitungen an der Tagesordnung waren:

    "Grundsätzlich lässt sich sagen, dass dieses Gewaltphänomen reichsweit auftrat, in manchen Städten in manchen Krawallhochburgen fast wöchentlich, es war in einem Ausmaß verbreitet, das sich fast nicht mehr vergleichen lässt, mit der Gegenwart, es lag daran, dass ständig diese lokale Ehre auf dem Spiel stand, die permanent jede Woche im Stadion verteidigt wurde. Und da griff man sehr schnell auch zu Gewalt."

    Das kollektive Gedächtnis trügt, weil es das verklärte Bild einer heilen Fußball- und Fangeschichte präsentiert, das der wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Rudolf Oswald wundert sich deshalb über die aufgeregte Debatte zum Tatort Stadion, wo weit schlimmere Zustände bereits überwunden sind. Oswald:

    "Interessant ist, wenn heute die Gewalt der Ultras beschworen wird, dass sich niemand mehr an die Zustände in den 70er- und 80er-Jahren erinnert, oder auch noch in den 90er-Jahren, als extreme Gewalt von diesen Hooligans zu beobachten war, jetzt nicht nur in den Stadien, da gab es diese vereinbarte Gewalt, man traf sich am Bahnhof um sich zu schlagen, auch das das scheint nicht mehr im Bewusstsein präsent zu sein, dass man eigentlich eine Abnahme der Gewalt hat."

    Wie soll man die aktuelle Situation beurteilen, in der Innenminister Friedrich zu härteren Maßnahmen und Sanktionen gedrängt hat. Er berief sich auf gestiegene Verletztenzahlen. Helmut Spahn, lange Zeit Sicherheitsbeauftragter des DFB:

    "Es ist ganz klar feststellbar, dass wir in den letzten Jahren eine enorme Steigerung der Zuschauerzahlen haben, in der Bundesliga von 12 Millionen auf nun fast über 20 Millionen Zuschauern pro Saison, im gleichen Zeitraum auch eine Steigerung der absoluten Zahlen der Verletzten. Aber prozentual ist die Zahl der Zuschauer wesentlich höher gestiegen, als prozentual die Anzahl der Verletzten, sodass wir eigentlich sagen müssten, dass im Verhältnis Zuschauer/Verletztenzahl die Verletztenzahl insgesamt prozentual gesehen geringer ist, als sie vor zehn Jahren war. Es ist in der Tat so, dass der Besuch eines Oktoberfestes um ein Vielfaches gefährlicher ist als der Besuch eines Fußballstadions, man hat an einem Tag Oktoberfest die gleiche Anzahl von Verletzten wie in einer ganzen Saison Fußballbundesliga."

    Verletzte sind nirgendwo einfach in Kauf zu nehmen, jeder Verletzte ist einer zu viel. Dennoch scheint es, dass von politischer Seite mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Und der Fußball wird dabei besonders streng beurteilt. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Event Fußball permanent im medialen Rampenlicht steht, mit seinen schönen ebenso wie mit den hässlichen Seiten.

    Das größte Problem auf dem Weg zum sicheren Stadionerlebnis jedoch, da waren sich die Wissenschaftler einig, sind die Kommunikationshindernisse zwischen allen Beteiligten, zwischen Fangruppierungen, Polizei, Vereinen und Verbänden.