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Schwieriger Alltag

Für vier Tage reist Papst Benedikt XVI. in die Türkei. Für die dortigen Christen ist der Besuch eine besondere Stärkung in ihrem Glauben, haben sie doch im Alltag Repressalien zur fürchten. Tom Schimmek berichtet.

27.11.2006
    Das Tor zur Mater Dolorosa Kirche in Samsun ist verschlossen. Wer genauer hinschaut, entdeckt Überwachungskameras rund um das katholische Gotteshaus in der Bagdad Caddesi. Die Eisenpforte öffnet sich erst nach Rückfrage über die Sprechanlage.

    "Als wir beschlossen haben, als Christen in der Türkei zu leben, sagten viele unserer Freunde: 'Ihr seid verrückt, ihr seid mutig',"

    berichtet Pater Simone Matteoli.

    "Aber man darf keine Angst haben, jemanden zu verärgern, bloß weil man feststellt, dass man es als Christ in der Türkei nicht einfach hat."

    Das ist freundlich ausgedrückt. Anfang Februar wurde in Trabzon, 350 Kilometer weiter östlich, der 60-jährige Pater Andrea Santoro beim Gebet in seiner Kirche durch zwei Schüsse in den Rücken getötet. Der Mörder, ein 16-Jähriger, soll Zeugen zufolge bei der Tat "Allahu Akbar" gerufen haben - Allah ist groß.

    Am 2. Juli attackierte ein 47-jähriger Mann in Samsun auf einer belebten Straße Pastor Pierre Brunissen mit einem Messer. Der sogleich gefasste Täter sei wegen Schizophrenie in Behandlung, teilten die Behörden mit. Der 74-jährige Priester quittierte kurz darauf seinen Posten an der Mater Dolorosa Kirche.

    "Ich glaube, unsere Engel sind stärker als die Polizei und können uns am besten schützen","

    meint Pater Matteoli. Er ist mit seiner Frau, einer türkischen Katholikin, und den zwei Kindern, zwei und vier Jahre alt, im September aus Italien hierher gekommen, um die Stellung zu halten. Im Empfangszimmer hinter der Kirche liegt Spielzeug am Boden. Auf der Anrichte steht ein Bild von Papst Benedikt. Nebenan brummt die Waschmaschine. Die Matteolis sind sehr vorsichtig. Sie haben sogar einen Leibwächter. Sind die beiden Attentate Einzelfälle?

    Die Frage sei schwierig und gefährlich, sagt der Pater mit einem scheuen Lächeln und blickt dann weit zurück: Zu osmanischen Zeiten hätten Millionen von Christen in der Türkei gelebt. Heute könne man die Katholiken in Samsun fast an einer Hand abzählen.

    So friedlich mutet die Stadt an. Auf der Einkaufsmeile sieht man Frauen an Wühltischen. Am Hafen hocken die Angler. Vor einer Moschee sitzen Senioren beim Plausch. Überall wird der fremde Gast gern zum Tee eingeladen. Die Atmosphäre ist freundlich und offen.

    Der Sage nach lebten bei Samsun vor über 3000 Jahren die Amazonen. Verbürgt ist, dass dann die Griechen kamen, die Römer, die Mongolen, die Genueser, die Osmanen. Am 19. Mai 1919, ging hier Mustafa Kemal an Land, der sich später Atatürk nannte - Vater der Türken. Hier begann er seinen Befreiungskrieg, der 1923 in einer laizistischen Republik mündete. Atatürks Vermächtnis wird in Samsun besonders hoch gehalten. Denkmäler stehen überall, Straßen und Plätze sind nach ihm benannt. Ein Taxistand und ein Möbelgeschäft tragen den 19. Mai im Namen.

    ""Das ist Atatürks Handschrift. Das ist 100 Prozent original","

    schwärmt Mustafa Gecer, ehemaliger Bankmanager und Hobbyforscher im Atatürk-Museum. Stolz führt er durch die Sammlung, zeigt auf Hüte, weiße Handschuhe, auf Kämme, Silberbesteck, Gewehre. Er spricht von Dankbarkeit, von Liebe.

    ""Alle liebten Attatürk – Männer, Frauen, Kinder. Käme er wieder, wären alle sofort bereit,"

    sagt Herr Gecer. Natürlich strebe man weiterhin nach Europa, ganz im Sinne Atatürks.

    "Er war ein Genie. Er hat dies alles kommen sehen und uns gesagt: Strebt immer gen Westen. Das war genial."

    Besteht ausgerechnet in Samsun nun eine fundamentalistische Gefahr? Kaum jemand folgt dem Ruf des Muezzin. Viele Frauen tragen kein Kopftuch. Die Situation ist zwiespältig.

    Es gebe im türkischen Alltag eine Bipolariät, "eine laizistische und eine eher fundamentalistisch-islamische Seele", meint Pater Matteoli. Die Menschen wanderten zwischen diesen Polen.

    Dieser Alltag macht ihm zu schaffen. Von Problemen mit der Aufenthaltsgenehmigung bis zu dubiosen Artikeln in der Lokalpresse. Argwöhnisch werden Christen beäugt, ob sie Muslime zu missionieren versuchen. Andererseits ist das offizielle Bedauern über die Angriffe auf Priester groß. Der 16-jährige Mörder von Trabzon wurde im Oktober zu 18 Jahren, 10 Monaten und 20 Tagen Haft verurteilt. Er hat gestanden. Und Berufung eingelegt.

    Letztlich könne die Türkei vom Papstbesuch nur profitieren, meint Pater Matteoli. Und auch für Samsun seien die Christen eine Chance, weil ihre Anwesenheit ein Zeichen dafür sei, dass die Stadt den Fortschritt lebe.