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Schwieriges Leben

Wer eine richtig gute Seifenblase machen will, die beste, größte, schillerndste Seifenblase von allen, der braucht Konzentration und Leichtigkeit. Und einen langen Atem, das vor allem. Hampus hat nach seiner ersten Begegnung mit Fia dieses Seifenblasengefühl: Froh und stark und gleichzeitig vorsichtig fühlt er sich. Eine Aufgabe liegt vor ihm, und möglicherweise eine aufregende Freundschaft. Die Aufgabe hat ihm Fia gestellt, das Mädchen, das am Tor des Amtsrichters unter dem Baum stand. Wenn er sie erfüllt, bekommt er den weißen Stein, ihren wichtigsten Troststein. Und Fia: Sie weiß auch nicht, wie ihr geschehen ist. Da hat sie diesem frechen, fremden, verwegenen Jungen einfach ihren besten Stein versprochen. Gerade noch lag die letzte Ferienwoche in ihrer ganzen Ödnis vor ihr – von der Vorstellung, danach wieder zur Schule zu müssen, ganz zu schweigen – und plötzlich ist da so etwas wie ein Abenteuer.

Von Monika Osberghaus | 24.07.2004
    Die schwedische Kinderbuchautorin Gunnel Linde führt in ihrer Geschichte vom "weißen Stein" zwei Kinder zusammen, die vorher nicht wussten, was ihnen fehlte. Beide, Fia und Hampus, hatten sich eingerichtet in ihrem Unglück. Fia hatte sich an ihre Einsamkeit, die Stille und die vielen Verbote im Haus des Amtsrichters längst gewöhnt. Hampus kannte nichts anderes als das unstete, ungeordnete Leben in der kinderreichen Familie seines Onkels, wo er nur ein hungriger Esser mehr am Tisch war und wo niemand von ihm etwas anderes erwartete als den nächsten Unfug. Beide mögen das Leben nicht, das sie führen. Deshalb verbergen sie es voreinander. Fideli heiße sie, behauptet Fia, und wer ihre Eltern sind, das müsse ein Geheimnis bleiben. Daß er "der König der Gefahren" ist, das nimmt sie ihm sofort ab.

    Obwohl Gunnel Linde die Erzählperspektive zwischen Fia und Hampus immer wieder wechselt, ist Fia die Hauptfigur. Hampus ist zwar der Draufgänger, aber diese Rolle ist ihm nicht neu. Er ist eine Art Tom-Sawyer-Figur: ungebunden und lebenshungrig. Nachts geistert er furchtlos in der kleinen Stadt herum, und seine Streiche krönt er gerne mit irgendeiner Frechheit, über die die Leute dann lange reden können. Seinen Namen hat er wirklich gut gewählt. Die brave, schüchterne Fia aber krempelt ihr Leben wirklich um, riskiert Ärger mit ihrer ebenso braven Mutter und fordert den Zorn der Haushälterin des Amtsrichters heraus, die ein wahrer Drachen ist. Fia geht aufs Ganze, so sehr elektrisiert sie das Zusammensein mit dem König der Gefahren. Der glatte weiße Stein wandert zwischen den beiden Kindern hin und her, als Pfand und Belohnung für neue Taten, als Zeichen der immer inniger werdenden Freundschaft und heimlichen Komplizenschaft, und auch als Symbol der Hingabe.

    Gunnel Linde inszeniert mit dieser Geschichte voller Geheimnisse eine Gegenwelt der Kindheit. Die Haupthandlung hat für die beiden Kinder eine komplett andere Bedeutung – und zwar die gültigere Bedeutung – als für die Erwachsenen. In dieser Welt sind sie Fideli und der König der Gefahren, ein kühnes, entschlossenes Paar, das sich mit den selbstgemachten Abenteuern in immer größere Aufregungen hineinschaukelt. Es ist eine Zauberwelt, innerhalb deren Logik der weiße Stein Wünsche erfüllt und Kräfte mobilisiert; Ihr Ort ist die große, dichtbelaubte Linde vor Fias Fenster. Hier schaffen sich die beiden Kinder ein eigenes Zuhause, suchen den Baum als Schutz- und Märchenraum auf.

    Erwachsene haben weder Zutritt zu dieser Welt noch überhaupt Verständnis für sie, selbst dann nicht, wenn sie es versuchen. So bleibt ihnen aber auch die Verzweiflung verborgen, die dort ebenfalls herrschen kann. Das Gewicht, das Gunnel Linde dieser Verzweiflung zugesteht, zeigt, wie ernst die Autorin das Erleben der Kinder nimmt. Fideli wird zur Räuberbraut, um ihren König zu retten, und sie ist drauf und dran, mit ihm abzuhauen, als ihnen ihre Abenteuer über den Kopf wachsen. Sie ist sogar bereit, mit ihm zu sterben, als sie gar nicht mehr weiter weiß. Die Zuspitzung auf diese Verzweiflung hin lässt ein wenig von den Abgründen erkennen, an denen Kinder stehen können, ohne dass irgendjemand von außen davon etwas ahnt. Als Aktivistin des schwedischen Kinderschutzbundes wusste Gunnel Linde, wovon sie schrieb. Hier ist sie direkter als Astrid Lindgren, die ebenfalls von der Trostlosigkeit der Kinder erzählte, aber vorwiegend in ihren fantastischen oder märchenhaften Geschichten. Fia und Hampus sind realistische Kinder mit ganz realen Sorgen, und wie sie die angehen, das macht ihre Geschichte so dramatisch.

    Vierzig Jahre ist dieser Kinderroman schon alt, und das merkt man ihm auch an. Ort und Personal sind überschaubar wie in einem Kammerspiel. Wir haben es mit Typen zu tun: Da gibt es den strengen, aber gerechten Amtsrichter, seine böse, schimpfende Haushälterin, die altmodisch "Tante Malin" heißt, den etwas liederlichen Schuhmacher, den argwöhnischen Kaufmann und die zickigen Mädchen aus der Schule, denen Fia gerne einmal ordentlich die Zöpfe langziehen würde. Auch die Stadt ist eine typische kleine schwedische Stadt von damals – die Kirche ist wichtig und das Haus der Schullehrerin, und man kann noch in einen Ziehbrunnen hineinfallen. Ein Wanderzirkus gastiert gerade, der auch eine gewisse Rolle im Geschehen übernimmt. Dies alles ist Kindern heute nicht mehr so geläufig wie in den sechziger Jahren, als das Buch erstmals erschien. Die sehr behutsame Neuübersetzung von Birgitta Kicherer übertüncht nichts davon, im Gegenteil; ein wenig mutiger hätte sie schon sein können. Kat Menschiks Zeichnungen dagegen sind eindeutig frisch; zuweilen gibt das einen harten Kontrast. Jedenfalls vermitteln sie beides: die Vitalität der Figuren und die Beschaulichkeit ihrer Umgebung.

    Wenn Kinder dieses Buch trotz seiner deutlich altmodischen Anklänge heute gerne lesen werden, liegt das, oberflächlich betrachtet, sicher an der klug komponierten Dramatik der Geschichte. Dass sie bei aller Spannung auch die sanfte, sinnliche Sprache Gunnel Lindes genießen, merken sie vielleicht gar nicht. "Der Schatten des Baumes, unter dem sie stand, lag wie eine dunkle Hand auf ihrem Haar" – ein solcher Satz fällt nicht weiter auf, lässt aber Bilder vor dem inneren Auge entstehen, genau wie das von der Seifenblase. Ob die Seifenblase, mit der der König der Gefahren zu Anfang der Geschichte sein Gefühl für Fideli beschreibt, wirklich seine größte wird, das erzählt Gunnel Linde übrigens nicht. Den echten Test auf ihre Freundschaft müssen die beiden Kinder noch bestehen: die Konfrontation mit der Wirklichkeit, ein nicht mehr ganz so geheimnisvolles Leben als Fia und Hampus jenseits der Linde. Diese Anforderung ist allen Kindern auch heute vertraut. Doch ein wenig von der verwegenen Verfassung, in die Fideli und der König der Gefahren geraten sind, und die kein Erwachsener ergründen kann, können wir alle gut gebrauchen. Entnervt stöhnt der Amtsrichter am Schluss seiner vergeblichen Vernehmung: "Wenn ich nur verstehen könnte, was in euch Kinder gefahren ist!" Fideli erklärt es ihm: "Ich glaube, der Wind hat sich gedreht und die Uhr hat geschlagen und der Hahn hat gekräht, und da sind wir eben so geworden".

    Gunnel Linde
    Der weiße Stein
    Gerstenberg, 200 S., EUR 12,90