Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Schwimmende Pille

Medizintechnik. - Ein U-Boot, dass durch die Blutbahn schwimmt und Defekte selbstständig repariert, das war einmal die Vision einer Medizin im Nanomaßstab. Was die Miniaturisierung demnächst tatsächlich leisten kann, wird gerade auf der Tagung pHealth 2010 in Berlin diskutiert. Auch dabei spielt eine Art U-Boot eine Rolle, aber das soll nicht in Venen oder Arterien schwimmen, sondern im Magensaft oder im Dickdarm.

Von Volkart Wildermuth | 27.05.2010
    Vor den Tagungsräumen steht ein tischgroßer Industrieroboter. Er bewegt einen Elektromagneten langsam einige Zentimeter über einer Glasplatte, mal hin und her, mal im Kreis. Unter der Platte folgt eine kleine Kapsel jeder Drehung, jedem Ruck. Dieser magnetische Paartanz, soll in Zukunft in der Klinik aufgeführt werden und die Kapsel zielgenau durch den menschlichen Darm lenken. Dr. Sebastian Schostek hat das System schon in Organen aus dem Schlachthof erprobt.

    "Also, die Kapsel kann sich langsam schwenken, um beispielsweise eine Rundumsicht zu erlangen in einem Organ. Sie kann hoch und runter geschwenkt werden, sie kann vorwärts und rückwärts gezogen werden und das alles über Steuerbefehle, die der Arzt über so einen Art Playstation-Controller eingibt und der Roboter dann ausführt. Er sieht praktisch die Perspektive der Kapsel und fühlt sich praktisch wie in einem U-Boot und kann die Kapsel durch das Organ steuern."

    Der Ingenieur arbeitet bei der Tübinger Firma Novineon, die das europäische Forschungsprojekt Vector koordiniert. Das Ziel von Vector ist die Weiterentwicklung der sogenannten Kapselendoskopie. Seit zehn Jahren gibt es diese Kameras in Pillenform, die der Patient schluckt und die dann Bilder aus dem Verdauungstrakt senden. Das ist angenehmer, als eine Untersuchung per Endoskop. Der Nachteil: die Kapsel wird zufällig von der Darmbewegung geschoben, gedreht, verrückt. Die Ärzte haben keine Möglichkeit, verdächtige Strukturen im Darm gezielt zu untersuchen. Die magnetische Steuerung der Vector-Kapsel durch die Bauchdecke soll es in Zukunft möglich machen, etwa einen Polypen im Dickdarm rundum in den Blick zu nehmen. Für den Einsatz im Magensaft gibt es eine Kapsel-Variante mit Propellerantrieb, die dann wirklich einem U-Boot ähnelt. Vector kümmert sich aber nicht nur um den Antrieb der Kapseln, sondern auch um ihre Sinne, erläutert Marc Schurr. Der Professor für experimentelle Chirurgie ist der Gründer von Novineon. Im etwa ein Zentimeter großen Glaskopf der Kapsel sind mehrere Lichtquellen und Kamerachips vereint. Ein Vergleich zwischen Bildern in blauem und rotem Licht gibt zum Beispiel Hinweise auf eine stärkere Durchblutung – ein Warnzeichen bei einem Darmpolypen.

    "So dass wir durch spektroskopische Analyse des Gewebes auch besser hervorheben können, ob ein Befund, den wir sehen, krankhaft verändert ist, ob es vielleicht nur eine Entzündung ist, ob es ein gutartiger Polyp ist, oder ob wir unter Umständen schon ein bösartiges Wucherwachstum haben."

    Was die Diagnostik betrifft, sollte die Pillenendoskopie ihren großen Vorbildern bald das Wasser reichen können, sie hat aber einen entscheidenden Nachteil. Wenn der Arzt heute bei einer Darmspiegelung eine Krebsvorstufe entdeckt, kann er sie im selben Arbeitsgang auch gleich entfernen. Ein Skalpell kann die Vector-Kapsel bislang noch nicht vorweisen. Das Europäische Forscherteam hat aber immerhin schon einen Weg gefunden, kleine Darmblutungen zu verschließen. Dazu wird ein spezieller Metallclip auf die Kapsel geschoben. Der Arzt kann ihn per Fernsteuerung an die verletzte Stelle drücken, erläutert Marc Schurr.

    "Und weil er aus einer Formgedächtnis-Legierung ist, dann sobald er runter geschoben ist, von alleine zusammengeht, von alleine zubeißt sozusagen und damit die Blutung stillt."

    Ein erster Schritt in Richtung Therapie. Um tatsächlich einen entarteten Polypen zu entfernen, wird man aber wohl auch in Zukunft eine Darmspiegelung über sich ergehen lassen müssen. Marc Schurr geht aber davon aus, dass die bislang sehr niedrige Bereitschaft zur Darmkrebs-Früherkennung deutlich steigen wird, wenn sie nur das Schlucken einer Pille erfordert. Die Vector-Kapsel, mit Antrieb, Sensoren und Clipabwurfmechanik ist mit ihren zwei Zentimeter Länge zwar deutlich größer als ein Aspirin, aber sie lässt sich trotzdem schlucken. Das hat Sebastian Schostek als echter Ingenieur im Selbstversuch getestet.

    "Die Endoskopiekapsel ist relativ groß, sie fühlt sich auch relativ groß im Mund an, aber sie lässt sich relativ angenehm runterschlucken, es braucht ein bisschen Überwindung, aber es macht keine Probleme."

    Noch kam da nur ein maßstabsgerechtes Modell der Vector-Kapsel zum Einsatz. Bis Ende des Jahres sollen aber erste klinische Prüfungen beginnen.