Freitag, 19. April 2024

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Schwimmverbot im Ferienlager

"Ja, 1991 da hatte ich meine Arbeitsstelle verloren, hier in Köln. Und ich habe mir dann einen Computer gekauft und habe gedacht: So, jetzt schreibe ich erst einmal auf, was mir alles an Eindrücken noch in Erinnerung ist, was mir aufgefallen ist. Irgendetwas Schönes. Und dann habe ich so, also 1991, angefangen zu schreiben. Aber dann fand ich, war es schon ein langer Weg. Acht Jahre fand ich schon lang, weil damals auch ein bisschen mich bedrängt hat, dass ja in der Zeit viele junge Autoren veröffentlichten, und ich dachte: "Um Gottes Willen, man darf also nicht Ende 30 sein als Autor, man muss irgendwie 27 sein!" Wirklich, ein ganz bescheuerter Druck. Und ich habe irgendwie etwas lange dafür gebraucht, um mich davon zu lösen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht bin ich langsam. Aber ich hatte irgendwie viel Druck von außen, irgendwelche andere Stimmen, die mir das so sagten. Aber dann hatte ich's. "

Von Gisa Funck | 10.07.2007
    Roswitha Haring, 1960 in Leipzig geboren und aufgewachsen, studierte Germanistin und Kulturwissenschaftlerin, ist keine von den Schriftstellerinnen, die immer schon vorhatten, Schriftstellerin zu werden. Erst mit über dreißig begann die heute in Köln lebende Autorin Kurzgeschichten zu schreiben, nachdem sie unverhofft ihre Arbeitsstelle in einer Eventagentur verloren hatte. Ab da aber dauerte es noch einmal acht Jahre, bis Haring 1999 endlich ihre erste Erzählung veröffentlichte. Und endlich jenen ganz speziellen Tonfall gefunden hatte, der alle ihre Geschichten auszeichnet. Das ist ein Tonfall zwischen kindlicher Arglosigkeit und neugieriger Analyse, wie er für Heranwachsende typisch ist, die ihre Umwelt genau beobachten, ohne sie jedoch schon ganz durchschauen zu können:

    "Ich wollte diesen naiven Blick. Das war eben für mich so kompliziert, als ich lernte zu schreiben, dass ich das mit Erwachsenen nicht hinkriegte. Ein Erwachsener weiß ja sehr viel. Ein Erwachsener hat diese ganzen Gesetze schon in sich drin. Und er führt das einfach aus, und - buff, aus, vorbei - und dann ist er vielleicht traurig oder deprimiert, oder was auch immer, aber ein Kind lernt das eben mit der Zeit. Diese Kinder oder diese Jugendlichen sind schon alt genug, um schon genügend Ordnung gelernt zu haben. Also, es ist schon einiges in ihnen drinnen. Und diese beiden Systeme, ihr eigenes - ihre Naivität, die sie noch haben - und das Gelernte, das arbeitet nun in ihnen."
    Roswitha Haring schreibt autobiografisch gefärbte Geschichten über das Aufwachsen in der ehemaligen DDR. Und damit auch: Geschichten über die Erziehung in einem totalitären System. Nur liest sich das bei ihr überhaupt nicht so. Denn anders als etwa in den, vor ein paar Jahren so beliebten Jugendbüchern der sogenannten "Zonenkinder" spielen die Embleme und Alltagscodes der DDR in Harings Geschichten keine Rolle. Und tritt der offizielle Staatsapparat hier so gut wie nie in Erscheinung. Das war auch schon in Harings Debütroman "Ein Bett aus Schnee" vor vier Jahren auffällig, der von einer tristen Kindheit in der ostdeutschen Provinz handelte, die einem gar nicht so weit weg vorkam. Man hätte sich diese triste Provinzkindheit auch gut in der alten Bundesrepublik vorstellen können. Oder sogar im wiedervereinigten Deutschland. Eine beunruhigender Lektüre-Effekt, der sich nun auch bei Harings neuem Erzählband "Das halbe Leben" einstellt. Denn auch in diesen dreizehn Kindheits- und Jugend-Episoden ist die DDR erneut weniger ein klar umrissener, verschwundener Ort als eine bedrohlich-verdruckste Grundstimmung des gegenseitigen Misstrauens, die einem nicht unbedingt fremd erscheint:

    "Also, Ordnung ist in diesen Geschichten sehr wichtig. Systeme, Gesetze, Regeln. Alles, was wir im Prinzip lernen müssen. Was unsere Kultur ist. Unsere Erziehung. Und ich glaube, viele Leute machen auch hier die Erfahrung mit Zwang, ja - vielleicht sogar mit Diktaturen in Familien. Mit Strenge. Mit Disziplin. Nur finde ich, kann man es manchmal nicht so leicht erkennen, wie das vielleicht in der DDR möglich war. Ich finde, es kleidet sich hier mehr in Lässigkeit."
    Vordergründig passiert in Harings neuen Erzählungen aus "Das halbe Leben" eigentlich nichts Schlimmes. Keine körperliche Gewalt. Kein Todesfall. Keine tragischen Misserfolge. Stattdessen sind es kleine Ereignisse, kleine Gesten und lapidar dahin gesprochene Worte von Älteren, die ihren heranwachsenden Erzählerinnen schwer zu schaffen machen. Sei es ein Schwimmverbot in einem Ferienlager. Oder die Kleidungsvorschrift beim Aushilfsjob in einer Gurkenfabrik. Sei es der Aberglauben, wonach Mädchen einem Schlachter nicht beim Schlachten zuschauen dürfen, weil das angeblich Unglück bringt. Oder auch die Höflichkeitsregel, wonach man Dankesbriefe auch dann mit persönlichem "Ihre" unterschreibt, wenn man den Adressaten gar nicht persönlich kennt.

    Alle diese Merksätze und Vorschriften klingen eigentlich nicht besonders streng oder besonders ungewöhnlich. Doch, wenn etwa eine Mutter ihrer minderjährigen Tochter in der Erzählung mit dem Dankesbrief schließlich am Ende vorhält, dass diese ja offenbar nicht einmal wüsste, "wie man ein paar Sätze schreibt", dann schwingt in einem solchen Urteil mehr als nur der Ärger über einen missratenen Brief mit. Nämlich auch die vernichtende Prophezeiung der Mutter, dass ihre Tochter sich auch sonst nicht in der Erwachsenenwelt zurechtfinden wird. Und damit das Drohszenario eines generellen Scheiterns, das ständig in Harings Erzählungen wie ein stummer Vorwurf zwischen den Zeilen lauert - und ihre jungen Erzählerinnen zutiefst verunsichert:

    "Ich glaube, was für diese Figuren wichtig ist, was diese Ereignisse so tragisch für sie macht, sie haben - glaube ich schon - wenig Trost. Und sie sind schon allein. Es sind ja da nie Eltern, Geschwister, Onkel, Großmutter, irgendjemand, mit dem sie das besprechen könnten, um diese Ereignisse dann in etwas einzubetten, sondern sie gehen schon alleine los - diese Figuren und erleben dann etwas, und sie können dann nicht an einen Ort zurückgehen und sagen: "Hör mal, was mir da passiert ist!""
    Während Erziehungsregeln bei anderen Kindern und Jugendlichen durch Gespräche tröstlich relativiert werden, nehmen sie im Inneren von Harings Protagonistinnen schnell monströse Ausmaße an, weil diese Mädchen niemanden haben, dem sie sich anvertrauen könnten. Kein Freund, keine Freundin, kein Lehrer steht ihnen zur Seite. Erst Recht nicht die eigenen Eltern, die ihren Kindern eher misstrauisch hinterher spionieren als ihnen zuzuhören. Auf diese Weise wachsen sich scheinbar harmlose Missverständnisse zu seelischen Dramen aus. Und werden aus Standartmaximen jeder normalen Erziehung - wie etwa dem Spruch, wonach "Ordnung das halbe Leben" ist - unverhofft Glaubenssätze einer radikalen Selbstentwertung, wie sie für totalitäre Regime typisch sind. Das, was man gemeinhin als "die schönste Zeit des Lebens" bezeichnet - die Kindheit und Jugend nämlich - fühlt sich für Harings Protagonistinnen entsprechend zumeist alles andere als schön an. Und mit der erwachenden Erotik in der Pubertät nimmt der Druck von außen für sie noch einmal zu. Und steigert sich die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit ins Maßlose.

    Wie brutal weit dann ausgerechnet bei ersten Liebeserlebnissen die Lücke zwischen naiv-romantischer Vorstellungswelt und herzbrecherischer Erwachsenenwirklichkeit oft genug auseinanderklafft, haben auch schon andere Schriftstellerinnen wie Karen Duve oder Sibylle Berg in Büchern geschildert. Roswitha Haring beschönigt in ihren zunächst so unspektakulär anmutenden Initiationsgeschichten nun ebenfalls nichts an der ungeheuren Ernüchterung, die jedes Erwachsenwerden mit sich bringt. Doch klingen ihre jungen Heldinnen längst nicht so lakonisch und so desillusioniert wie bei Duve oder Berg. Es ist vielmehr genau die Mischung aus noch ungestümer Unbedarftheit und sich doch schon tragisch abzeichnender Enttäuschung, die Harings Berichte eigentümlich in der Schwebe halten und ihren neuen Erzählband so faszinierend machen.

    "Das ist mir im Laufe meines Lebens eben nicht mehr so erschienen, dass Kindheit und Jugend sowieso nicht immer und nicht für jeden so idyllisch und so schön verläuft. Jeder hat mindestens ein Ereignis oder eine längere Zeit aus seiner Jugend und Kindheit, an die er sich nicht so gern erinnert. Also, wenn ich jetzt alleine daran denke, wie viele Mädchen sich hässlich erschienen, selbst! Als sie eben 15 waren und so weiter. Das ist ja geradezu ein Phänomen und - sehr traurig. Also, ich weiß nicht, diese Romantik, ich kann sie nicht finden. Und es ist irgendwie nicht so. Ja, da habe ich mich im Laufe der Jahre wohl darauf spezialisiert."

    Roswitha Haring: "Das halbe Leben", Ammann Verlag, 176 Seiten, 18.90 Euro.