Freitag, 19. April 2024

Archiv


Sebastian Conrad, Shalini Randera (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus.

Bis ins beginnende 20. Jahrhundert bauten die Theorien zur europäischen Kolonisation auf die klare Opposition zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Doch im Laufe dieser Herrschaft geriet die Ordnung auf beiden Seiten ein wenig durcheinander. Zu weiß und schwarz gesellten sich Mischfarben, die Perspektiven der Betrachtung vervielfachten sich, ebenso wie die Konzepte, die Spuren christlich-europäischer Unterwerfung zu beseitigen. Eine neue Theorie sollte her, eine postkoloniale Wissenschaft, die dem europäischen Blick einen afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen an die Seite stellte. Besonders betroffen sind hier die Geschichts- und die sog. Kulturwissenschaften. Mit ihnen befasst sich denn auch ein neuer Band aus dem Campus Verlag. Die Herausgeber, Sebastian Conrad und Shalini Randeria, versuchen darin der westlichen Ignoranz gegenüber dem 'außereuropäischen Anderen’ eine Ende zu bereiten.

Khosrow Nosratian | 04.11.2002
    Lange Zeit ist die moderne Welt aus europäischer Optik beschrieben worden. Außereuropäische Entwicklungen pflegte man aus dem Blickwinkel einer an den Metropolen orientierten Historiographie wahrzunehmen. Diese europäische Geschichtsschreibung verdichtete sich im Telos nationalstaatlicher Meistererzählungen. Den Rest der Welt verbannte man an die Peripherie des kulturwissenschaftlichen Interessenspektrums. Durch die Marginalisierungsgeste geschützt, konnten die Spuren kolonialer Mentalität und die Strukturen des imperialistischen Habitus bei manchen Historikern der "Dritten Welt" überdauern. Deshalb will sich der bei Campus erschienene Sammelband von vornherein "Jenseits des Eurozentrismus" positionieren. Die ambitionierten Autoren suchen sog. "postkoloniale Perspektiven" zu erarbeiten. Dabei wird die Betrachtung der europäischen und außereuropäischen Welt als Verflechtung geteilter Geschichten in Angriff genommen. Die Einleitung der Herausgeber Sebastian Conrad und Shalini Randera stellt das Konzept einer solchen "Verflechtungsgeschichte" vor. Sie wird

    Eher fragmentarisch sein als holistisch und umfassend, eher von konkreten Problemen und Verbindungen ausgehen als welthistorische Totalitäten postulieren. Sie erlaubt es, nationale und kulturelle Grenzen zu übertreten und den Austausch und Fluss von Ideen, Institutionen und Praktiken als Ausgangspunkt der Analyse zu wählen. Eine solche Perspektive eröffnet den Blick auf die ungleiche Textur und Beschaffenheit der modernen Welt, die auch als Effekt differentieller Auswirkungen der kolonialen Begegnung auf unterschiedliche Bereiche des sozialen Lebens gelesen werden kann.

    Der Abschied von der Universalgeschichte prägt eine solche Lesart. Ihr Milieu sind Fallstudien, die ihren Pioniergeist in provokanten Grenzverletzungen einüben. Ein frecher Versuch schlägt vor, Europa zu "provinzialisieren". Nicht nur werden die Bruchlinien zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Vertrauten und dem Befremdenden ausbuchstabiert. Der Titel "Jenseits des Eurozentrismus" bildet vielmehr eine dezidierte Aufforderung zur Umgestaltung des modernen Geschichtsbildes.

    Im 18. Jahrhundert verglich sich Europa mit Asien; im 19. hielt es sich für unvergleichlich.

    Erst das 20. Jahrhundert, das Europa in Krisen zerrüttet und in Kriegen zerrissen erlebte, konnte das Orchideenwissen eines exotisierenden Orientalismus in Frage stellen, der als Spektakel der Neugier inszeniert wurde.

    Ganz allgemein trafen die Europäer im Orient ein, nachdem sie – auf Bildern und Ausstellungen, in Museen und Büchern – Pläne und Kopien gesehen hatten, zu denen sie die Originale suchten.

    Die Studien stellen die "Ausgliederung des 'Anderen' aus der Moderne" auf den Prüfstand. Mehrfach wird auf Edward Saids 1978 publiziertes Buch 'Orientalism' Bezug genommen. Es gilt als Gründungsmanifest der postkolonialen Denkform, die kritisch auf den Zitatcharakter unseres Orientbildes verweist, in dem das angebliche Original aus einem Amalgam von Referenzen entsteht. Hier setzt die Aufsatzsammlung ein. Ihre Bestandsaufnahme der Forschung ist umfassend. Sie liefert eine Heerschau der Begriffe und Methoden, mit denen sich der Westen sein Abziehbild vom Nicht-Westen macht, um seinen Hegemonieanspruch zu begründen. Deshalb sind die Studien kühne Expeditionen in historiographisches Neuland, das sich dem europäischen Wissen entzieht und seiner zivilisatorischen Macht verweigert. Dabei muss die "postkoloniale Kritik" paradoxal verfahren, wie ein Autor erklärt. Sie richtet ein

    unmögliches 'Nein' an die Adresse einer Struktur, die sie zwar kritisiert, aber zugleich im Innersten bewohnt

    Die Auflehnung gegen die subtile Komplizenschaft von Wissen und Macht prägt die Aufsätze insgesamt. Sie rennen dabei gegen die spezifische Theoriesprache der europäischen Wissenschaftsarchitektur an, die durch die asymmetrische Auffassung des "Anderen" charakterisiert ist. Die Ignoranz gegenüber dem außereuropäischen "Anderen", verbunden mit allen Arten der Negation von der Auslassung bis zur Auslöschung, ist die stillschweigende Ressource des Unternehmens "Geschichte", das heimliche Fundament des westlichen Weltbildes.

    Während allein Europa zu Entwicklung und Fortschritt in der Lage zu sein schien, galten die außereuropäischen Gesellschaften als "Völker ohne Geschichte", als Kulturen der Stagnation und Rückständigkeit. Das moderne Konzept der Geschichte verwies die kolonisierte Welt in den 'Warteraum der Geschichte’ (...). Der Kolonialismus konnte so als pädagogisches Projekt erscheinen, durch das die Welt historisiert, in die Geschichte eingeholt wurde.

    So wurde die Revolution auf Haiti, die nur zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille erfolgte, mit einem Mantel des Schweigens zugedeckt. Sie vollzog sich außerhalb des Sagbaren der Epoche, weil sie nur als unwahrscheinliche Nachricht diskutiert wurde. Dem Sklavenaufstand würde eine rasche Rückkehr zur sogenannten Normalität folgen, so die verbreitete Annahme. Die souveräne Lektüre von Michel-Rolph Trouillot stellt nun eine verblüffende Übereinstimmung damaliger und gegenwärtiger Beurteilungen fest. Seine übergenaue Prüfung der historiographischen Zensurpraktiken kommt zu dem Schluss, dass

    die narrativen Strukturen der westlichen Geschichtsschreibung bis heute nicht mit der ontologischen Macht der Renaissance gebrochen" hätten: "Diese strukturelle Machtausübung ist viel wichtiger als die vermeintlich konservative oder liberale Haltung der betreffenden Historiker.

    Deshalb fordert der Autor ein "grundsätzliche(s) Umschreiben der Weltgeschichte". Das Konzept der Verflechtungsgeschichte stellt eine solche Umschrift dar. In einer kapitalistischen Warenwelt mit ihrer phantomartigen Realität ist alle Geschichte geteilt. Sogar die Arbeitsteilung zwischen dem Mythos und dem Logos wird auf die erstaunlichste Art reproduziert. Ein Autor, mit einem Beitrag zur Ethnographie Lateinamerikas befasst, unterstellt einem kolumbianischen Bauern

    einen verborgenen transkulturellen Austausch zwischen Teufelsglauben und europäischer kritischer Theorie.

    Denn jener Landmann wollte dem Teufel seine Seele verkaufen, um ohne Arbeit zu Geld zu kommen. Im Denkbild des faustischen Pakts, der das Betriebsgeheimnis Europas offenbart, kann die Arbeitsmetaphysik der Moderne auf rituelle Praktiken umgelegt werden. Damit entfaltet der Verfasser die Grundlinien einer "transkulturellen Anthropologie", die nicht nur Frankfurt und Bogotá zusammenrückt, sondern die Aufgabe einer "Epistemologie der Politik" im Zeichen einer "Politik der Epistemologie" formuliert. Wie das aussehen kann, zeigt Sheldon Pollocks scharfsinniger Beitrag zur "Indologie im nationalsozialistischen Staat". Das Orchideenfach avancierte zum Statthalter einer "indogermanischen Geistesgeschichte", die die völkischen Phantasien von der geschichtlichen Sendung des Dritten Reichs pseudowissenschaftlich unterfütterte.

    Der NS-Staat bediente sich zur Legitimierung unter anderem des Mythos von den 'arischen' Ursprüngen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte die Orientalistik diesen Mythos produziert.

    Orientalisierende Ideologeme gehörten zum doktrinalen Kern des antisemitischen Rassenwahns. Auch beim Holocaust stand die Orientalistik Pate, wie Pollock am Beispiel des Indologen Herman Lommel nachweist.

    In seinem Werk 'Die alten Arier' unternahm Lommel den Versuch, aus den ältesten Kulturdenkmälern den 'echten arischen Geist' herauszuziehen, um ein Bewusstsein für 'unsere eigene historisch gewordene und blutmäßig ererbte Wesenart' zu gewinnen. Ausgerechnet im Jahre 1939 schließlich publizierte er eine Untersuchung über 'Den arischen Kriegsgott'.

    Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektive in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, herausgegeben von Sebastian Conrad und Shalini Randera. Das Buch ist im Campus Verlag erschienen, hat 380 Seiten und kostet 24.90 Euro.