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Sechs Jahre nach AKW-Katastrophe
Japan will Fukushima-Opfer zur Heimkehr bewegen

Sechs Jahre nach der Katastrophe von Fukushima streicht Japan vielen Opfern das Wohngeld. 27.000 Strahlenflüchtlinge, die das Gebiet ohne Evakuierungsbefehl verlassen hatten, müssen entweder in ihre alten Häuser zurückkehren - oder sehen, wo sie bleiben. Die Strahlung, sagt die Regierung, sei kein Argument mehr.

Von Jürgen Hanefeld | 11.03.2017
    Notunterkünfte in Miharu/Präfektur Fukushima.
    Notunterkünfte in Miharu/Präfektur Fukushima. (picture alliance/dpa-Zentralbild/Fritz Schumann)
    Es sei nur ein Verwaltungsakt, sagt der Beamte der Stadt Osaka, fünf Stunden von Fukushima entfernt.
    "Das Gesetz über Katastrophenhilfe geht nun zu Ende. Unsere Stadt Osaka hat nicht vor, eine eigene Hilfe für die Evakuierten einzuführen."
    Die Evakuierten, das sind die, die damals, vor sechs Jahren, vor der radioaktiven Wolke geflüchtet sind. Mehr als 160.000 Menschen hatten das von der Kernkraftkatastrophe verseuchte Gebiet Hals über Kopf verlassen. Die Hälfte von ihnen lebt immer noch in Notunterkünften. Etliche in der Präfekturhauptstadt Fukushima, andere über ganz Japan verstreut, zum Beispiel in Osaka. 27.000 von ihnen sollen jetzt zurück in ihre alte Heimat. Wie das geht? Man streicht ihnen das Wohngeld.
    Mein Tsunami - Die Katastrophe (Videodokumentation):
    Persönliche Katastrophen
    "Das geht doch gar nicht", sagt Miho Ishikawa. "Finanziell und wegen meiner seelischen Verfassung kann ich nicht zurück. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich bin total ratlos."
    Die junge Mutter von drei kleinen Kindern lebt in einer Sozialwohnung in Osaka, ihr Mann ist in Fukushima geblieben. Wie so oft in diesen Fällen löste die Atomkatastrophe auch eine persönliche Katastrophe aus. Mihos Ehe ging kaputt und wurde geschieden.
    "Meine Lage hat sich nicht verändert. Ich kann mir deshalb gar nicht vorstellen, in meine alte Wohnung zurückzukehren."
    Hungerstreik gegen Wohngeldstreichung
    Die erzwungene Rückkehr sogenannter freiwilliger Flüchtlinge bringt Ken Sakamoto auf die Palme. Der 47-Jährige stammt aus Tomioka, ganz nahe an der strahlenden Ruine, lebt heute aber südlich von Tokio. Gegen die Einstellung des Wohngeldes ging er in Hungerstreik.
    "Ich finde, gegen diese Entscheidung muss man aufstehen im Namen aller Betroffenen. Für manche Evakuierte, besonders die Älteren, geht es um Leben und Tod. Die zuständigen Beamten sagen selber, dass einige Nuklearflüchtlinge durch den Wegfall der Wohnungsbeihilfe ins Elend gestürzt werden."
    Kaum Bereitschaft zur Rückkehr
    Die Motive des Staates liegen auf der Hand. Durch die Streichung der Subvention will er Geld sparen und die Wiederbesiedlung der angeblich dekontaminierten Landstriche beschleunigen. Doch die Appelle fruchten wenig. Nicht einmal zehn Prozent der ehemaligen Bewohner sind bereit zur Rückkehr. Kein Wunder, sagt Hiroshi Kanno, ein Bauer aus Iitate, der gerade sein vor sechs Jahren verlassenes Haus besucht hat:
    "Wir haben bewaldete Hügel hinterm Haus. Die sind nicht dekontaminiert. Von da kommt immer noch Strahlung nach. Ich fürchte, noch für Jahrzehnte.
    Im Zimmer seiner Enkelin hat er das Sechsfache des staatlichen Grenzwertes gemessen, und das 40 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Auch wenn jetzt für ihn und seine Familie die Evakuierungsverordnung aufgehoben wird, er kann dort nicht mehr leben.
    Millionen Säcke voll verstrahlter Erde
    "Ich werde das Haus aufgeben. Es ist eine bittere Entscheidung und tut sehr weh. Ich bin hier geboren, habe dieses Haus gebaut und fast 50 Jahre bewohnt."
    Von den einst 45 Familien in seiner Umgebung wollen nur zehn zurück. Nicht nur der Strahlung wegen. Es fehlt an Infrastruktur, an Ärzten und Einkaufsmöglichkeiten, an vertrauter Nachbarschaft, an jungen Leuten. Denn die arbeiten längst woanders. Und dann die Umgebung! Schwarze Säcke voll verstrahlter Erde, insgesamt 7,5 Millionen, liegen überall in der Landschaft herum. Keiner weiß, wohin damit.
    Kanno ist 68. Er ist nicht auf materielle Unterstützung angewiesen, er kann von seiner Rente leben. Von der Entschädigung hat er für sich und seine Frau eine neue Bleibe in der Stadt gebaut. Doch zuhause, sagt er, ist er dort nicht.