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Seelenbilder mit Sprache gezeichnet

Eine "Erzählerin der Liebesarten" und eine "Detektivin der Seele" wird Ingrid Bachér in einer Würdigung zu ihrem 75. Geburtstag genannt, den sie im September des vorigen Jahres beging. In der Novelle "Der Liebesverrat" stellt sie ihre detektivischen Fähigkeiten erneut unter Beweis. Mit sprachlicher Treffsicherheit lotet Bachér die Gedanken- und Gefühlswelten der Protagonisten aus.

Von Cornelia Staudacher | 01.02.2006
    Ort und Zeit der Handlung ist ein Restaurant der gehobenen Klasse irgendwo in Deutschland, in dem sich ein aus drei Ehepaaren bestehender Freundeskreis zusammengefunden hat, um mit einem opulenten Mahl die Jahreswende 2004/2005 zu begehen. Die Freunde, allesamt in der zweiten Hälfte des Lebens, sind reserviert fröhlich, eher besinnlich, was nicht zuletzt daher rührt, dass das Wirtspaar auf eine Nachricht seines Sohnes wartet, der in der vom Tsunami heimgesuchten Gegend den Jahreswechsel feiern wollte. Aber da ist auch Judith, eine junge Frau, die Nichte eines der drei Paare und, wie sich später herausstellt, seit einiger Zeit schon die Geliebte von Arno, einem der anwesenden Ehemänner.

    Die unerhörte Begebenheit, der Wendepunkt in der Novelle, ist der Moment, in dem Judith völlig unvermittelt ihre bis dahin geheim gehaltene Liebesbeziehung und bevorstehende Verlobung mit Arno öffentlich macht. Die durch diese Eröffnung wie in einer chemischen Kettenreaktion ausgelösten Gedanken, Reflexionen und Gefühlsanwandlungen werden von Ingrid Bachér im feinfühlig-sensiblen Gleichgewicht zwischen Emphase und Lakonie in sprachliche Form gebracht. Ist Judiths Bekanntgabe ihres Verhältnisses mit Arno, mit der sie sich über alle vorher gemachten Vereinbarungen mit dem Geliebten hinwegsetzt, der im Titel angekündigte Liebesverrat?

    "Nein, das Wort Liebesverrat habe ich so eigentlich gar nicht gemeint mit dem Titel, denn sie verrät ja nicht ihre Liebe, vielleicht verrät man sogar die Liebe, indem man nicht einwilligt in diese Liebe am Ende, sondern sich wieder zurückzieht oder versucht, sich zurückzuziehen Es geht ja offen aus, man kann sich auch selber verraten, man kann auch die Chance zu etwas Neuem verraten, es ist vieldeutig und es wird ja auch abgehandelt wie ein Spiel in verschiedenen Variationen durch diese drei Paare und das junge Mädchen. Es ist also nicht eindeutig gemeint nur der Liebesverrat dieser jungen Frau, die, wie Sie sagen, unfair ist. In der Liebe ist man nicht fair. Das ist eine Explosion, das ist eben, ja wie das Ansteigen des Meeres."

    Es geht ganz unaufgeregt und ruhig zu in diesem wahlverwandtschaftlichen Kammerspiel aus unseren Tagen. Mit Einfühlung und sprachlicher Treffsicherheit lotet Ingrid Bachér die Gedanken- und Gefühlswelten der Protagonisten aus. Vieles wird nur angedeutet. In Anbetracht des offenen Ausgangs dieser 120 Seiten umfassenden Novelle möchte man als Leser am liebsten auf dem Rücksitz im Auto oder am gemeinsamen Frühstückstisch des einen oder anderen der drei Paare Platz nehmen, um den weiteren Gesprächen lauschen und noch mehr erfahren zu können von ihren Seelenschürfungen und emotionalen Verletzungen. Ingrid Bachér schafft mit der Sprache Seelenbilder. Es sind schwebend hingehauchte Bilder in hellen, zarten, klar unterscheidbaren Farben, auf Distanz gehalten durch einen hellgrauen Schleier der Melancholie, der über dem gesamten Tableau liegt.
    "Ich will Bilder schaffen, in denen die Welt wieder greifbar und verstehbar oder erkennbar wird, sagen wir einmal, verstehbar wahrscheinlich nicht, aber erkennbar wird und Menschen ihre eigene Situation umfassen und denken können, und ja, das ist das Problem. Ich glaub, Bilder sind größer als Erklärungen, und zu den Erklärungen kommt man selber, wenn man liest und verbindet Dinge, aber was wenn einfach von Gestalten gesprochen wird und sie vor einem stehen und man Bilder schafft von Situationen, so wie Imre Kertesz das ja ständig macht, dann ergibt sich viel mehr daraus, als wenn einer Erklärungen abgeben würde, das war so und so und ich habe das dabei empfunden, sondern es muss umgesetzt werden."

    Ein Plädoyer für eine differenzierte realistische Literatur, die dem poetologischen Grundsatz folgt: Sprich, damit ich dich sehe. So hieß der Titel einer Hörspielanthologie, die in den 60er Jahren herausgekommen war. Auch Ingrid Bachér hat am Anfang ihrer Schriftstellerkarriere Hörspiele geschrieben. Sie gehörte zu den ersten Mitgliedern der Gruppe 47. Wie weit ist sie vom realistischen Schreiben, von der nach dem Krieg propagierten Kahlschlagprosa eines Heinrich Böll oder Günter Eich geprägt worden?

    "Eich, Aichinger, Peter Weiss, das waren alles Menschen doch, die schrieben, weil sie etwas ausdrücken wollten, was sie betraf, was die Gesellschaft betraf, was die Vergangenheit, die Kriegsvergangenheit auch betraf, das war sehr handfest vom Inhalt, wenn auch sehr oft, je nach dem, wer es geschrieben hatte, artistisch in der Form, dafür bin ich auf jeden Fall, ich bin fürs Artistische in der Form. Die Sprache muss fliegen können, selbst dann, wenn sie ganz ernsthaft ist, eine ernsthafte Sache beschreibt, das ist ganz wichtig, also ich bin nicht für realistische Literatur, die einfach aufzählt und meint, das wäre es schon."

    Die Novelle "Der Liebesverrat" ist das Werk einer reifen, in die Jahre gekommenen Autorin. Als sie auf einer Lesung gefragt wurde, ob sie das Buch so auch schon früher hätte schreiben können, wurde ihr klar, dass sie es früher nicht so geschrieben hätte. Eine gewisse Distanz sei nötig gewesen und die tiefe Einsicht, Liebe nicht als Besitz zu begreifen, sondern als Geschenk.

    "Da wurde mir klar, dass ich es früher nicht so geschrieben hätte, denn dieser Gedanke, dass man Liebe nicht als Besitz ansehen darf, den hatte ich zwar früher auch, aber er war nicht so scharf, auch nicht so klarsichtig konnte ich früher über Menschen schreiben. Ich merke jetzt, die Personen werden deutlicher in ihrer Verschiedenheit, eben weil ich ein bisschen mehr Distanz habe.

    Da ich mich selber nicht mehr sehr wichtig nehme, reflektiere ich darüber ganz anders als früher, wie ich ankomme oder was ich tue oder mache, und dadurch verliere ich aber auch meine Befangenheit und meine Schüchternheit, die ich früher sehr stark hatte."

    In ihrem im vorigen Jahr erschienenen Buch "Sieh da, das Alter. Tagebuch einer Annäherung" schildert Ingrid Bachér die Facetten eines Prozesses, dem niemand entgeht. Das Buch hatte einen großen Erfolg, das Thema Alter hat, wie es scheint, derzeit Konjunktur. Aber Bachérs Buch hebt sich von den anderen ab, indem es nicht objektiv-akademisch mit dem Thema umgeht, sondern situativ-persönlich. Bachér mischt historisch-politische Reflexionen mit persönlichen Erinnerungen und Erkenntnissen. Szenen des Todes und Verlustes stehen neben Momenten des Glücks und der Erfüllung. Manche Passagen muten flüchtig an, wie im Vorbeigehen notiert. Dann wieder verweilt die Autorin, Augenblicke genießend, wie in ihrem geliebten Bagnoregio in Apulien, ein wenig länger im Stillstand, als wolle sie die Zeit anhalten. Was verändert sich im Alter?

    "Verändern tut sich für mich die Distanz, dass ich gelassener sein kann, dass ich es aus einer etwas weiteren Entfernung schon betrachte, mich nicht immer einmische, recht haben schon gar nicht mehr will, auch Wertung ist nicht wichtig, sondern erkennen und ansehen, ein Wunsch, den ich immer hatte, was zu erkennen, aber jetzt ist noch gesteigert, dass ich die Dinge wirklich ansehe und versuche, Zusammenhänge zu begreifen, und auch der Sinn für Komik wird größer, ich sehe jetzt viel, viel öfter die Komik einer Situation, in der ich früher vielleicht Partei ergriffen hätte. Das heißt nicht, dass ich nicht noch immer meine Haltung zeige und Partei ergreife, wenn ich es für richtig halte, aber es ist eine größere Distanz, es ist keine so große Aufgeregtheit mehr. Ich nehme mich selber gar nicht mehr so wichtig, das ist ein vielleicht großer Vorteil."

    Wenn Ingrid Bachér auf ihr Leben zurückblickt und die Prägungen, die sie erfahren hat, nennt sie zu allererst die Unsicherheit, die Ungewissheit der unmittelbaren Nachkriegszeit.

    "Ganz sicher, dass ich im Krieg aufgewachsen bin, Nachkriegszeit, ich war 14, als der Krieg zu Ende war, die Holocaust-Bilder, die vollkommene Unsicherheit, die Ungewissheit, es war nichts sicher, es war weder die Geschichte, die mir erzählt worden ist, sicher, das gab es nicht, es gab keinen Besitz. Besitz war etwas, was da sein konnte oder weg sein konnte, und das ist eine wunderbare Erfahrung gewesen, weil ich dadurch nie mehr das Gefühl hatte, auf festem Boden zu stehen, sondern immer aufstehen kann und weggehen kann."

    Der Literatur und dem Schreiben galt von Anfang an ihr ungeteiltes Interesse. Mit Begeisterung erinnert sie sich an erste Veröffentlichungen übersetzter amerikanischer Prosa und die Rororo-Taschenbuchreihe, die wie eine Verheißung auf dem Buchmarkt der Nachkriegszeit erschien. Eine kurze Zeit über wollte sie Schauspielerin werden. Das Geld für die Schauspielschule verdiente sie, indem sie für Zeitungen schrieb. Mit 18 schrieb sie erste Theaterstücke für Kinder, später dann Hörspiele und Features, zum Beispiel über ihre Reisen mit Frachtschiffen nach Kuba und Südamerika. In jenen frühen Jahren hielt sie sich wenig in Deutschland auf.

    "Als ich nach Deutschland wieder kam, bin ich dann nach Rom gegangen, kriegte - Gott sei dank - ein Stipendium und blieb dann einige Jahre, ich wollte eigentlich raus, weil eben, ja es war auch ein bisschen das, was Hannah Arendt mal gesagt hat, dass die Deutschen so einen Widerwillen haben, ihre Situation zu begreifen, das war ja damals dann in der Restaurationsphase in Deutschland so und das war nicht so mein Ding, und so habe ich dann in Rom gelebt, und das war wiederum eine Erfahrung, die mich gefühlsmäßig sehr geprägt hat, wenn das andere politisch vorher war, Gruppe 47 und Krieg und alle diese Dinge, war Rom dann etwas, was mich Norddeutsche sehr erlöst hat, und sehr glücklich gemacht hat."

    Leben und Schreiben sind für Ingrid Bachér untrennbar miteinander verbunden. So hat sie sich auch immer wieder ins politische Geschehen eingemischt. Sie war lange im PEN, bevor sie 1995 in einer extrem schwierigen Phase, als es um die Vereinigung von Ost- und West-PEN ging, zur Vorsitzenden gewählt wurde. Nach dem Scheitern der Verhandlungen traten 40 Mitglieder aus dem West-PEN aus, darunter auch Ingrid Bachér. Als Vorsitzende der Heinrich-Heine-Gesellschaft in Düsseldorf hat sie Diskussionen über die Globalisierung und den islamisch-christlichen Dialog veranstaltet.

    "Mich interessiert es sehr. Es gehört dazu, und ich glaube nicht, dass man schreiben kann über seine eigene Zeit, ohne Anteil zu nehmen und ohne Stellung zu nehmen."