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Seelentausch im Neuen Musiktheater

Avatár - dieses Wort bezeichnet bei Computerspielen das virtuelle Wesen, in das ein Spieler schlüpft, wenn er sich in Online-Welten bewegt. Davon ahnte Théophile Gautier natürlich nichts, als er unter dem Titel "Avatar" eine Novelle schrieb. Ihm ging es Mitte des 19. Jahrhunderts um die Verwandlung in einen anderen Menschen. Ein liebeskranker Mann soll geheilt werden, indem er den Körper mit dem Ehemann seiner Angebeteten tauscht. Der Schweizer Komponist Roland Moser hat daraus eine Oper gemacht. Und die kam nun am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen zur deutschen Erstaufführung.

Von Frieder Reininghaus | 05.03.2006
    "Avatar" ist eine Geschichte aus der Mitte des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts und aus Paris, der Hauptstadt der Epoche. Sie verweist auf die einstigen Erwartungen hinsichtlich zunehmend entgrenzter Möglichkeiten der Medizin. Zugleich scheint sie noch von Herzen aus dem Geiste E.Th.A. Hoffmanns zu stammen: Im Zentrum stehen phantastische Begebenheiten im Ordinationszimmer des Okkultisten Dr. Balthasar Cherbonneau, der offensichtlich auch Experte der Psychoanalyse wie der Parapsychologie ist. Durch diesen Arzt, den seine Haushälterin mit dem Temperament des Südens kujoniert, erfährt der liebestolle lebensmüde Octave de Saville Linderung seiner Nöte. Dessen Geist und Seele überträgt Cherbonneau bei relativ hoher Raumtemperatur mit einem elektrischen Schlag des Mesmerschen Apparates in den Körper eines durch seinen schillernden Ruf angelockten polnischen Grafen.
    Denn - welch ein Zufall! - die Gattin dieses Herrn ist das so lange unerreichbar gebliebene Objekt der Begierde des jungen Octave. Obwohl der riskante "Avatar" an ihm vollzogen wurde, verpatzt er nun aber doch die Chance seines Lebens. Bei der ersten Begegnung mit der Gräfin tritt er zugleich allzu euphorisch und verklemmt auf (der Dame dünkt dies merkwürdig); auch scheint er das Polnische ganz vergessen zu haben (die Gräfin wird mißtrauisch). Überhaupt wirkt er, der Liebhaber in der Körperlichkeit des Ehemanns, herzanrührend "neben der Kappe" - Günter Papendell akzentuiert das Weichlich-Verwöhnte und am Leben scheiternde Naturell dieses höheren Sohns vorzüglich.

    Den polnischen Aristokraten, der in Théophile Gautiers Novelle von 1856 noch Labinski hieß, benannte der historisch kundige Komponist Roland Moser in Anspielung auf eine tragikomische Begebenheit im Freundeskreis von Fredéric Chopin in Czosnowski umbenannt. Nyle P. Wolfe gibt ihn mit seiner voluminös wohlklingenden Stimme als besonnenen Mann des Second Empire, der rasch erkennt, dass er Frau und gesellschaftliche Stellung nur zurückgewinnen kann, wenn er das Äußerste wagt. Er fordert den Rivalen, mit dem er inzwischen so viel teilt, zum Duell. Das bricht der junge Mann aber regelwidrig ab: er gibt sich angesichts seiner Impotenz bei der Gräfin geschlagen. Gemeinsam ersuchen die Zweikampfpartner Dr. Cherbonneau um Rückübertragung von Seelen und Geistern - und zum zweiten Mal vollzieht er den "Avatar". Bei dem bleibt aber der junge Herr de Saville leblos auf der Walstatt der Medizin liegen. Dem Doktor, einer Don-Alfonso-Figur, die lt. Selbstdiagnose schwer an Claudicatio intermittens leidet, bleibt wenig anderes übrig, als vermittels eines dritten "Avatar" den eigenen Geist der Leiche anzuverwandeln und den gebrechlichen Körper aus dem Rennen scheiden zu lassen.

    Das Happy End bei Grafens spart Roland Moser aus. Überhaupt unternahm er gegenüber der Gautier-Novelle einige beziehungsreiche Retuschen - bis hin zur zeitlichen Fixierung der Handlung auf 1846 und jenen Zeitpunkt, an dem Heinrich Heine in Paris sein Testament machte. Moser bearbeitete die Erzählung aus dem Geiste Lorenzo da Pontes zum Libretto, dessen "So machen es alle" sogar wörtlich zitiert wird. In der Partitur wimmelt es von Anspielungen auf Musik des 20. Jahrhunderts, zuvorderst auf Satie und dessen Wiedergewinnung von Ausdruckslosigkeit und Langsamkeit. Mitreißend gerät diese Literaturoper nicht gerade. Sie erweist sich als das feinsinnige Konstrukt eines kulturhistorisch beschlagenen Akademikers, der einen anheimelnden Anachronismus kredenzte: Einen Nachzügler der E.Th.A. Hoffmann-Welt stattete er mit Musik von jenem Schlage aus, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vorfindliche Welt möblieren wollte und sonst nichts. Das Ergebnis ist ein intellektuell unterhaltendes Stück mit Konversationsmusik.