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Seelische Hilfe für Polizisten
Beschimpfungen belasten manchmal schwerer als körperliche Angriffe

Polizisten üben das Gewaltmonopol aus und werden dabei an hohen moralischen Ansprüche gemessen, an denen sie manchmal scheitern. Gleichzeitig werden sie auch selbst oft beleidigt oder angegriffen. Ein Zentrum in Nordrhein-Westfalen unterstützt Polizisten dabei, damit umzugehen.

Von Moritz Küpper | 29.07.2020
    Polizisten und Demonstranten bei der Demonstration zum 1. Mai 2020.
    Polizisten und Demonstranten bei der Demonstration zum 1. Mai 2020: Auseinandersetzungen sind bei der jährlichen Veranstaltung immer zu erwarten. (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)
    Liz-Katrin Herholz steht vor einer kleinen Messingwaage.
    "Ja, es ist grundsätzlich so, dass natürlich im Laufe des polizeilichen Berufslebens irgendwo Belastungen entstehen."
    Die Polizeihauptkommissarin nimmt einzelne, kleine Steine in die Hand.
    "Bei uns in der Polizei wird auf jeden Fall auf dieser Seite der Waagschale etwas hinzukommen. Ja, die wird sich füllen, über die ganzen Dienstjahre."
    Sie schaut zu, wie die Waage langsam sinkt: Der überraschende Schlag auf den eigenen Kopf, die Bilder einer zusammengeschlagenen Ehefrau, die Kollegin die im Dienst erschossen wird, die Schreie von missbrauchten Kindern, die Fäkalien, die auf einen fliegen oder schlichtweg ein hasserfüllter Blick. Herholz schaut erneut auf die Waage.
    "Wichtig ist auch immer, zu gucken für uns auch: Was ist denn auf der anderen Seite – neben der Belastung? Die Entlastung."
    Hauptkommissarin Liz-Katrin Herhol
    Hauptkommissarin Liz-Katrin Herhol (Deutschlandradio/Moritz Küpper)
    Die Waage kommt langsam wieder ins Gleichgewicht. Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge bei der Polizei NRW", kurz "ZeBuS", heißt die Einrichtung innerhalb des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten. Hier, in Selm, im südlichen Münsterland, gibt es diese besondere Einrichtung innerhalb Deutschlands größter Polizei, die bundesweit einzigartig ist.
    "Die Erkenntnis, dass es einer Werteorientierung bedarf, um den Polizeiberuf gut auszuführen, ist erstmal keine neue Erkenntnis."
    Sagt Thomas Kubera, der zuständige Abteilungsleiter in Selm. Doch: Dass man sich – in didaktisch-modernen Form – explizit des Themas annehme, ein Angebot geschaffen habe, an dem bereits knapp 18.000 Menschen aus der Polizei seit dem Jahr 2010 teilgenommen habe, macht Eindruck. Auch anderswo. Das zeige sich daran, so Kubera, dass "wir viele Anfragen aus anderen Bundesländern haben. Wir haben auch Kooperationen mit anderen Bundesländern, die zu uns kommen, wir haben ja sogar Ausstrahlungswirkung in den europäischen Bereich hinein."
    Mit der eigenen Unvollkommenheit umgehen
    "Wir sprechen hier über ein Spannungsfeld, in dem wir uns als Polizisten des Öfteren mal bewegen", sagt Hauptkommissarin Herholz. Sie steht im Eingangsbereich des sogenannten Grenzgang. Vier Themenräume gibt es hier, die sich durch Umfragen innerhalb der Polizei herauskristallisiert haben. Angesiedelt im Erdgeschoss eines schlichten Zweckgebäudes.
    "Das Spannungsfeld zwischen erwarteter Professionalität auf der einen Seite und auch auf der anderen Seite: Wir nennen es gefühlte, menschliche Unvollkommenheit. Das sind Gedanken, Gefühle, Emotionen. Wut, Angst, Rache, Hass."
    Matthias Quent, Rechtsterrorismus-Experte und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, 2019 in Berlin
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    Eine wissenschaftliche Aufklärung von rechtsextremistischen Vorfällen bei der Polizei und anderen Behörden wäre ein Signal, dass nichts verborgen werde, sagte der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent im Dlf.
    Hinter Herholz, auf dem Boden, liegt eine lebensgroße Puppe mit roter Pulloverjacke, Baseball- Kappe und Flasche in der Hand. Sie soll einen Obdachlosen darstellen. Sind in der Gesellschaft alle gleich? Das ist die Fragestellung hier – und die Besuchergruppen reden meist von sich aus, schildern ihre Erfahrungen:
    "Wir haben als Polizisten oftmals, ja, mit Menschen zu tun, die sich irgendwo am Rand der Gesellschaft auch befinden und das macht etwas mit uns."
    Mitunter stumpfe man ab, das weiß auch Herholz:
    "Es gibt Kollegen, die haben zwanzig, dreißig, vierzig Jahre Streifendienst auf dem Buckel und die reden dann von der Person, wie die da vorne auf dem Boden liegt, nur noch von dem Stück Scheiße. Das passiert. Dann muss man reagieren. Wie kriege ich das wieder hin, dass er in der Lage ist, mit dieser Personengruppe auch wieder vernünftig umzugehen. Menschenwürdig umzugehen."
    Polizei und Gewalt, heißt das Thema in Raum zwei. Fotos an der Wand zeigen Schusswechsel, in der Mitte liegen Schlagstöcke, Helme. Oftmals seien Polizistinnen und Polizisten, die Träger des Gewaltmonopols, erst ab Anfang des Dienstes mit Gewalt konfrontiert:
    "Die Prügelei auf der Straße oder auf dem Schulhof, die haben viele auch gar nicht irgendwie mal erlebt und man kommt jetzt hierhin und man wird damit konfrontiert, dass man irgendwann Gewalt anwenden muss."
    Gruppengefühl gegen Angriffe
    Auch das, mache was, mit dem Menschen in dem Polizisten. Oft sind es, so erzählt Herholz, nicht die gewaltsamen Übergriffe, die hängen bleiben, sondern Beschimpfungen, Beleidigungen. Andere Kollegen berichteten davon, so Herholz, wie sie mit Fäkalien im Hambacher Forst beworfen wurden. An der Wand hängt ein Bildschirm, darauf eine Szene, wie eine Hundertschaft an Demonstranten vorbeiläuft. Plötzlich tritt einer der Polizisten zu. Der Fall ist klar, aber:
    "Es wird schwierig für die Kolleginnen und Kollegen sich dann da zu entscheiden, wenn ich frage: Wer bringt das zu Anzeige? Das hat was mit Zugehörigkeitsgefühl zu tun, Gruppengefühl. Es sind sich alle einige, was da zu tun ist, ne. Aber man tut sich in dieser Entscheidung unglaublich schwer."
    Extremsituationen heißt das Thema in Raum drei. Beispielsweise Kindesmissbrauch:
    "Wir hatten einen Kollegen hier, genau passend. Der saß hinter dem Schreibtisch und hat den Täter vernommen, der Kinder missbraucht hat. Und dann lächelte der immer so. Und dann sagte der Beschuldigte: Ich stelle mir gerade vor, wie ich das Ganze, was ich Dir jetzt erzählt habe, mit Deinen beiden Kindern, die da auf Deinem Schreibtisch stehen, mache."
    Herholz schaut, geht weiter in Raum vier. Tod und Sterben werden hier, im letzten Raum, thematisiert – es kann schnell gehen, im Einsatz.
    "Wenn wir hier durchgehen, dann sprechen wir über Herausforderungen und auch viel über Belastung. Und das sorgt für so eine bedrückte Stimmung."
    Herholz ist nun bei der Waage angekommen, die im Gleichgewicht sein sollte.
    "Wir haben diese Waage, am Ende, die auch sehr wichtig ist, damit schließen wir immer ab."
    Sie spielt mit den Steinen.
    "Und, um diese Seite halt weiter zu stützen und zu stärken, hat sich mein Kollege dieses Format überlegt, Kraftraum, Muckibude für den Kopf."
    Visualisieren, was einem Kraft gibt
    Es sind diese beiden Eckpfeiler, die das besondere Programm in Selm ausmachen. Der Weg in den Kraftraum führt in ein Nachbargebäude und letztendlich besteht das Ganze nur aus einem Raum mit Foto-Tapeten.
    "Wir haben in diesem Raum das Ganze in die Urkräfte eingebettet, die Erde, die Luft, das Wasser und das Feuer, das sehen sie hier nicht nur, das hören sie auch."
    Der Raum ist modern ausgestattet – doch der Mensch steht im Mittelpunkt:
    "Wir sind diejenigen, die das Steuerrad in der Hand haben und wir können es rumreißen, wir können daran arbeiten, wir können Veränderungen herbeirufen."
    Im Kraftraum mithilfe eines Basteltisches, den Herholz jetzt von der Decke herunterfährt.
    "Jetzt geht es darum herauszufinden, was ist es denn in mir, was mir Kraft gibt? Und wir versuchen das zu visualisieren."
    Auf dem Tisch liegen kleine Metallboote, dazu farbige Magneten.
    "Grün für den Bereich soziales Umfeld, Familie, Freunde. Gelb ist so das, was so aus mir herauskommt, mein Glaubensmotto."
    Rot ist der Bereich Polizei und lila steht für alle anderen Bereich. Die ersten fangen schon an zu basteln, als Herholz noch an eine Führungskräfte-Runde von vor einiger Zeit erinnert. Damals hätte eine Kollegin auf einmal angefangen zu weinen. Zum Schrecken. War es zu viel?
    "Sagte sie: Nee, ich weine, weil ich so glücklich bin. Also diese grüne Farbe, bei mir ist alles super: Wir sind verheiratet gerade, wir haben jetzt ein Haus gekauft, ich bin schwanger, wir bekommen ein Kind und ich habe gerade festgestellt wie gut es uns eigentlich geht. Fand ich sehr berührend in diesem Moment und ich fand es einfach toll, wie jemanden vor Augen geführt wird, wie glücklich man in diesem Moment einfach ist und wie viel Kraft einem das vielleicht auch gibt."
    Kraft, die nicht alle haben, aber Kraft, die Polizistinnen und Polizisten in Selm tanken sollen.