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Sehnen nach Ausbruch und Veränderung

In sechs Erzählungen nimmt Annette Pehnt rastlose Menschenwesen ins Visier, die gerne allein unterwegs sind oder auf Jagd nach einem rastlosen Gegenstück.

Von Anja Hirsch | 09.03.2010
    Warum Schreiben, immer wieder neu? Und warum bietet Ordnung Trost? Annette Pehnt erklärt es elegant mithilfe einer kleinen Evolutionsgeschichte Italo Svevos in der vergangenen Herbstausgabe der Literaturzeitschrift Bella Triste: Einst, so referiert sie, hat der Mensch zu jenen von Gott erschaffenen Wesen gehört, die, weil ständig unzufrieden, sich perfektionierten - mit einigem Erfolg. Ein dichteres Fell, Schwimmhäute und Ähnliches hat diese tierischen Wesen schließlich satt und fröhlich, wenn auch seelenlos gemacht. Nur ein einziges Tier, "ein ganz und gar unvollkommenes, düsteres Wesen ohne Flügel, ohne ein taugliches Gebiss", bleibt ewig unzufrieden, trotz immer neuer Ordnungssysteme im Bücherregal und Wissen und Werkzeuge. Wir wissen es längst, es ist der Mensch, und auch Annette Pehnt sieht sich in dieser wunderbaren Selbstauskunft als eine dieser Kreaturen, hoch erfreut, dass Italo Svevo - das ist die triumphale Volte in seinem Essay "Die Korruption der Seele" - dem Menschen, nicht dem satten Tier, das "wahre Leben" bescheinigt. Von eben diesem "wahren Leben", dem ungesättigten Leben, handelt Literatur, und auch Annette Pehnt schreibt darüber; zuletzt 2007 in "Mobbing". Und weil sie gleichzeitig selbst so ein Wesen ist, weil das Schreiben und Ordnen sie nur kurzfristig befriedigt, muss sie den Vorgang ständig erneuern: Nur im Vollzug, lässt sie wissen, sei die Vergewisserung der Erzählbarkeit spürbar. Herausgekommen sind diesmal Erzählungen, sechs an der Zahl. Rastlose Menschenwesen nimmt sie ins Visier. Menschen, die gerne allein unterwegs sind - oder auf Jagd nach einem rastlosen Gegenstück.

    " Er gab der schweren Kellertür einen Stoß mit dem Fuß, während sie das Kleid faltete und sorgfältig in das Regal neben eine Packung Briefpapier legte. Natürlich könnte es auch sein, dass ein anderer Kollege hinunterkäme, (...) und man würde ihnen, so viel stand fest, sofort kündigen, wenn man sie hier so fände, Fräulein Ü. in Hüfthalter und einem riesigen fleischfarbenen Büstenhalter, über dessen Schalen ihre Brüste hinwegquollen, ihm entgegen, dachte Rudi, aber die Gefahr erhöhte seine Gier noch. "

    "Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern", lautet der Mammuttitel dieses Erzählbandes. Im geschilderten Fall, gemeinhin unter der Rubrik "Sex im Büro" zu verbuchen, welcher sich in Annette Pehnts zart ironischen Satzgebäuden aber umgehend vom langweiligen Klischee zum anmutigen Hingucker wandelt, geht es trotz umständlicher Kleidung recht schnell:

    " Zwar erschrak sie ein wenig, als er etwas zittrig seine Manschettenknöpfe entfernte und die Hose aufknöpfte, denn was ihr da groß und dunkelrot entgegenragte, konnte wohl kaum in sie hineinpassen. Aber sie dehnte sich trotzdem mit einer verruchten großartigen Bewegung, die ihr, obwohl sie sich ja selbst nicht sah, gut gefiel, nach hinten über zwei Kisten, damit für Herrn H. alles gut erreichbar war. Er drängte sich gleich in sie hinein, und sofort zerriss etwas in ihr, und obwohl sie informiert war, dass es anders nicht ging, hielt sie kurz die Luft an. "

    Leicht amüsiert, dann wieder ernsthaft, stets aber anteilnehmend - so die Haltung der Autorin gegenüber ihren Figuren. Sie spürt deren Mut nach und beleuchtet zugleich die damit gepaarte Angst - wie in der Geschichte über einen Jungen auf Krücken, der hart trainiert, um doch noch einen Ball kicken zu können. Und so ergreift einen das Geschehen tatsächlich. Denn Annette Pehnts forsche, lupenscharfe Prosa speist sich aus eben jener Kraft, die der Suche nach einem Sehnsuchtsort erwächst, die "Insel 34" ihres zweiten Romans immer noch im Blick, quer durch melancholische Räume, in denen im schlimmsten Fall niemand mehr spricht. Denn die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Zugbegleiterin aus der ersten Geschichte macht beim Gang durch die Waggons aus der täglichen Routine ein großartiges Kopfkino. Sie nimmt Maß, spekuliert über die Reisenden, der Job hat sie Menschenkenntnis gelehrt. Ein unendliches, trotziges Selbstgespräch, über die Liebe, über Kinder, die zwischen Mama und Papa pendeln, nur kurz unterbrochen, wenn das Ticket eingesehen wird, und begleitet von Staunen, Wut, Trauer - denn das ständige stumme Urteilen hat eine Kehrseite: Es steht einer echten Begegnung im Weg und erschöpft. Immer wieder knicken Annette Pehnts starke Figuren ein, sinken Trost suchend neben Fremden nieder wie diese Zugbegleiterin:

    " Ich weiß nicht, wie alt sie ist, ich weiß nicht, warum sie den Blick nicht von mir lässt, es ist kein prüfender Blick, sie wartet nur ab, wie es mir geht, und auf einmal sacke ich ihr entgegen und liege mit dem Kopf auf ihrer Schulter, die schmal und knochig ist, sie riecht gut, sie riecht nach nichts. Sie fasst mich nicht an, sie legt nur den Arm leicht um mich, sodass ich ihn gleich abschütteln könnte, aber ich will gar nicht. "

    Was diese sechs unterschiedlichen Erzählungen miteinander verbindet, ist ganz klassisch das unerhörte, wortwörtlich sogar unerhört bleibende Ereignis: In der Erzählung "Wie in Schweden" stürzt einer Mutter Blut aus der Nase, der Vater bringt sie ins Krankenhaus, und die Kinder wachen morgens im leeren Haus auf, wischen mit Klopapier an den Flecken herum und versuchen, Normalität herzustellen. Es sind oft Ausnahmesituationen, wie in "Georg", das Kind, das sich kaum entwickelt. Ein Sehnen nach Ausbruch und Veränderung. Annette Pehnt umbaut diesen Kern mit einem Wort- und Gedankengestöber, das einen umhüllt und irritiert. Hilflos steht man am Ende dieser Erzählungen vor einem Gesamtunglück - und dem merkwürdigen Umstand, dass es trotz allem irgendwie weitergeht. Annette Pehnt gönnt uns und ihren Figuren noch ein Verlangen nach dem Ort, an welchem sich alles Unglück legt. Wir sehen wutentbrannte Gesichter milder werden. Wir folgen den Ratlosen in ihrer Rastlosigkeit. Wir sehen also die Normalisierung der Katastrophe. Oder eher: wie man sich wortlos daran gewöhnt. Annette Pehnt ist in der Beschreibung dieser ungesättigten Leben eine Meisterin.


    "Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern" Erzählungen von Annette Pehnt. Piper Verlag, 186 Seiten für 16,95 Euro.