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Sehnsucht nach nackten Tatsachen

Michal Hvoreckys Science-Fiction-Roman "City" zieht den Leser in den Bann. Das liegt weniger an der versatzartig zusammengestückelten Handlung rund um den internetsüchtigen Mirsky als an dem radikal-rebellischen Helden. Und gleichzeitig lässt sich aus Mirskys radikaler Kampfansage gegen alles Elektronische auch die Enttäuschung des Autors herauslesen.

Von Gisa Funck | 21.04.2006
    Die Vorstellung von einem wahren, ursprünglichen und unverfälschten Leben, das man nur außerhalb einer korrumpierenden Gesellschaft finden kann, ist eine zentrale Idee der Romantik. Nicht umsonst ist in den Romanen dieser Literaturepoche ständig von Helden die Rede, die in die Welt hinausziehen, um dort, bevorzugt in der Natur, auf Gott und Erkenntnis zu treffen. Diese alte, romantische Sehnsucht nach dem läuternden Ausstieg scheint nun wieder Konjunktur zu haben, zumindest in den Büchern und Romanen jüngerer Kapitalismuskritiker außerhalb Deutschlands.

    So sorgte etwa schon im letzten Jahr der kämpferische Essay des 1976 geborenen Franzosen Camille de Toledo für Aufsehen, der unter dem Titel "Goodbye Tristesse" für ein "widerständisches Nomadentum", fernab der Kommerzzentren, plädierte. Und auch in "City", dem aktuellen Science-Fiction-Roman des gleichaltrigen Slowenen Michal Hvorecky, klingt die Kapitalismuskritik nun erneut nach alt-romantischem Rückzugsappell. Dafür bürgt schon ein bedeutungsschweres Suchtproblem seines Haupthelden und Ich-Erzählers Irvin Mirsky.

    Mirsky, ein 25-jähriger Fotograf aus Bratislava, ist nämlich ein richtiger Junkie. Allerdings nicht nach Heroin oder anderen Drogen, sondern bezeichnenderweise nach dem Internet. Oder genauer gesagt: Mirsky, der als Internatsschüler einst von seinen Lehrern sexuell missbraucht wurde, ist süchtig nach indizierten Pornoseiten im Netz. Eine Sucht, die im Buch – man ahnt es schnell – vor allem symbolisch gemeint ist: als weiter reichende Sehnsucht nach "nackten Tatsachen" per se. Demnach sieht Mirsky sich vor allem deshalb so gern entblößte Körper an, weil sein virtueller High-Tech-Alltag ansonsten nur wenig sinnliche und echte Erfahrungen zu bieten hat:

    "Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich mich täglich mit Pornografie abgab. Ich weiß nur, dass es schrecklich viele waren. Ich schaute mir alles an, was ich schaffen konnte. Tausende von Körpern kannte ich besser als meinen eigenen. (…) Ein bisschen Pornographie ist wie ein bisschen Heroin: eine kleine Dosis gibt es nicht. Solange ich noch eine gültige Krankenversicherung hatte, ging ich ab und zu in die Klinik, um mich zu regenerieren. (…) Doch nach zwei Wochen Entwöhnung wurde ich jedes Mal wieder rückfällig. Ich wurde zu einem Drehtürpatienten, den die Krankenversicherungen hassen, da sie wissen, dass er sich sowieso einen Monat später auf derselben Station wieder findet, nur in noch schlimmerem Zustand als beim letzten Mal. (…) Am Tag, bevor ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Geschäft für Mobiltelefone betrat, kollabierte ich. Ich tippte nicht einmal ein ganzes Wort ein, um nicht gegen die Therapieregeln zu verstoßen. Es genügten drei Buchstaben. Ich wollte mir einen den Clip herunterladen. Dafür hätte es einer einzigen Bewegung meines Fingers bedurft. Im selben Augenblick jedoch erstarrte ich. Irgendetwas an dieser Seite kam mir komisch vor. Ich rieb mir die Augen. (…) Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis mir klar wurde, was ich dort sah: ich sah mich selbst. Auf diesen Porno-Fotos war ich zwölf. Ich versuchte, tief durchzuatmen, und bemühte mich, die Tränen zu unterdrücken. (…) Etwas hatte sich unwiderruflich geändert. (…) In die Wohnung zurückkehren, in der nur der Rechner auf mich wartete, konnte ich nicht. Ich weiß nur noch, dass ich sehr schnell ging und mit jedem Pulsschlag lediglich einen einzigen Gedanken immer wieder vor mir hersagte: Bloß weg! Bloß weg! Bloß weg!. Von meinem letzten Geld kaufte ich mir ein billiges Flugticket. Ich brauchte einen Neustart."

    Wie für jugendlich-romantische Helden üblich, tritt auch Porno-Junkie Mirsky die Flucht in die Ferne an. Doch gestaltet sich sein Ausstieg aus der Internetgesellschaft einer nahen Zukunft natürlich ziemlich schwierig, wo es kaum noch einen Winkel gibt, der nicht per Computer vernetzt ist. Was bei Joseph von Eichendorff oder auch Henry David Thoreau also noch mit einem Gang in den nächstgelegenen Wald erledigt war, bedarf beim Neu-Romantiker Hvorecky einer langen, ausgeklügelten Reise bis ans Ende der Welt. Denn erst dort, in den völlig heruntergewirtschafteten Staaten der Dritten Welt, steht endlich einmal kein Mobilfunkmast mehr. Und erst dort kann sich sein Held Irvin Mirsky ein bisschen von seiner Computersucht ausruhen. Bis es kommt, wie es in fast allen Junkie-Biografien kommen muss: Auch Mirsky wird wieder rückfällig.

    Ein Künstlerstipendium lockt den jungen Fotografen zurück, mitten hinein ins kalt-zuckende Herz des globalen Hyper-Kapitalismus, in die Hauptstadt von "Super-Europa", wie es heißt, die schlicht den Namen City trägt und deren Werbeslogan, "der unwahrscheinlichste aller Orte" zu sein, bereits früh andeutet, dass es sich hier mehr um eine Metropole des schön-glitzrigen Scheins – denn des wahren Seins handelt. Michal Hvorecky:

    "Im Grunde würde ich sagen: Es ist einfach ein Roman dieser visuellen Generation, die wahrscheinlich viel besser versteht, was im Fernsehen passiert als was in der Wirklichkeit. Das ist wirklich so große Frage nicht nur der Literatur, sondern der Philosophie und Ästhetik, irgendwie zu unterscheiden, was eigentlich die heutige Welt ist, und die Vorstellung, was ist eigentlich unser eigenes Leben? Was ist nur so Projektion? Besonders im Netz, wo sich Irvin Mirsky so daheim fühlt. Diese Avaters, diese Persönlichkeiten, die unreal sind, aber die viele Leute ganz ernst nehmen und wie wir uns präsentieren, zum Beispiel im Internet-Chat und so weiter. Man kann seine eigene Identität ganz einfach ändern.

    Also am Anfang hatte ich wirklich das Gefühl, dass ich vielleicht ein bisschen übertreibe im Buch, dass es vielleicht nur fiktiv ist. Doch trotzdem in diesen zwei Jahren des Schreibens, diese Wirklichkeit kam näher, als ich dachte. Ich sage nur ein Beispiel mit diesem jungen Südkoreaner, der - es ist nicht so lange her-– drei, vier Monate ist er bei seinem Computer gestorben, weil er drei Tage lang Computerspiele gespielt hatte. Ist wirklich so gestorben dabei. Und dann dachte ich: 'Okay, das ist dann Irvin Mirsky'. Dann ist es überhaupt keine Fantastik, sondern ist ein hyperrealistischer Roman in diesem Sinne."

    Besonders futuristisch wirkt Hvoreckys Sciene-Fiction-Roman tatsächlich nicht, eher wie eine zitatlastige Satire auf unsere heutige Konsumgesellschaft. Nicht allein, dass die Autos in "City" aussehen wie eine Kreuzung aus "Panzer und Mobiltelefon", wie es heißt: also genau so, wie man auch heutige Fahrzeugmodelle beschreiben könnte. Auch sonst kommt einem Vieles in dieser Zukunftsmetropole beängstigend bekannt vor, angefangen von allzeit präsenten Werbe-Sprüchen über Meldungen von ständigen Terroranschlägen bis hin zu Eltern, die ihre Kinder gegen Geld nach Markenartikeln benennen, so dass die meisten Bürger Super-Europas in diesem Roman gleich massenhaft "Mc Donald’s", "Nivea" oder auch "Nike" heißen.

    Das kennt man alles schon irgendwie: Wenn nicht aus der gegenwärtigen Wirklichkeit, so doch aus anderen, systemkritischen Romanen und Filmen der letzten Jahre. Etwa aus der "Truman Show" oder aus "Fight Club". Oder auch aus den düsteren Gesellschafts-Befunden von Michel Houellebeqc oder Douglas Coupland. Dass dann schließlich auch noch ein Stromausfall in City für Mirsky zum willkommenen Anlass wird, eine Art Woodstock-Revolte gegen Bildschirmüberwachung und Konsumzwang auszurufen, liest sich zwar ebenfalls nicht gerade originell. Gleichwohl zieht einen Hvoreckys Geschichte dennoch in Bann, was weniger an ihrer versatzartig zusammengestückelten Handlung liegt, als an ihrem radikal-rebellischen Helden.

    Schließlich hat Mirsky als Internet-Junkie im Endstadium keine große Wahl. Er muss, um sein Überleben zu sichern, kompromisslos für eine ganz neue Gesellschaft ohne Computer eintreten. Und ist damit natürlich von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil sich eine technologische Erfindung nun einmal nie ganz zurücknehmen lässt. Inmitten der ihn umgebenden, futuristischen Rasanz und zwischenmenschlichen Abgeklärtheit wirkt Hvoreckys jugendlich-romantischer Held nicht nur anrührend-tragisch, sondern geradezu wie aus der Zeit gefallen. Und gleichzeitig lässt sich aus Mirskys radikaler Kampfansage gegen alles Elektronische auch die Enttäuschung seines Schöpfers herauslesen.

    War dem jugendlichen Hvorecky die Hinwendung zum Kapitalismus anfangs noch wie eine Segnung erschienen, beurteilt er den politischen Systemwechsel in seinem einst sozialistischen Heimatland Slowenien inzwischen sehr kritisch. Literatur ist für ihn, der sich sein Schreiben hauptsächlich über die Arbeit in Werbeagenturen finanziert, immer auch politisches Statement. Und mit den weitgehend unpolitischen, selbstreferentiellen Romanen seiner gleichaltrigen Kollegen aus Deutschland kann er entsprechend nur wenig anfangen:

    "Ich hatte wirklich das Gefühl, man schreibt hier einfach anders als bei uns. /Vor allem würde ich sagen, dass hier in Deutschland, ist es eine Generation des Wohlstands, die irgendwie ganz andere Erfahrung hat. Und es ist auch so eine egoistische Generation, die sehr viel über sich selbst schreibt: Ich – Ich, mein Ego und meine, eigene Erfahrung.

    Für mich ist Literatur vielmehr eine Sache der Imagination, ist wirklich so ästhetische Darstellung. Und ich bin auch der Meinung, dass die Literatur kann auch kritisches Denken inspirieren und vielleicht auch selbst kreieren. Und in diesem Sinne ist es auch politisches Buch, weil es spricht über die - ich würde sagen - Postkonsum-Generation, über die post-kapitalistische Gesellschaft. Ich war 13, als die Wende kam in der Tschechoslowakei. Und dann war es wirklich so, dass die Welt sich total geändert hat, ganz schnell. Und vor allem diese Abhängigkeiten, da war für uns und Freunde meiner Generation alles auf einmal erlaubt. Auch die Drogen. Also am Anfang waren das wirklich Drogen-Abhängigkeiten, und später, in meiner Imagination, kam es mehr so zu Neue-Medien-Sucht."