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"Sehr unglückliche Äußerungen"

Der Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Sen, soll seinen Posten verlieren. Das beschloss der Vorstand des Zentrums aufgrund von Äußerungen Sens, die Türken seien die neuen Juden Europas. Der türkisch-stämmige Schriftsteller Zafer Senocak bezeichnete Sens Worte zwar als plakativ. Er regte jedoch ganz allgemein eine Dialog darüber an, wie Mehrheiten und Minderheiten miteinander umgehen.

Moderation: Dina Netz | 26.06.2008
    Dina Netz: Ausgerechnet heute, am Tag, nachdem sich türkische und deutsche Fans weinend in den Armen gelegen haben, ausgerechnet heute kommt die Meldung, dass der Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen Faruk Sen gehen soll. Der Vorstand des Zentrums hat sich heute zu einer außerordentlichen Sitzung getroffen und beschlossen, beim Kuratoriumsvorsitzenden die Abberufung von Sen zu beantragen. Begründung, seine Äußerungen schädigen die Reputation des Zentrums und widersprechen dem Stiftungszweck, ein gegenseitiges Verständnis von Deutschen und Türken zu erreichen. Was ist passiert? Hintergrund ist eine Veröffentlichung Faruk Sens in einer türkischen Zeitschrift im Mai. Er bezeichnete darin die Türken als die neuen Juden Europas. In dem Text steht zum Beispiel, "obwohl unsere Menschen, die seit 47 Jahren in Mittel- und Westeuropa beheimatet sind, 125.000 Unternehmer mit einem Gesamtumsatz von 45 Milliarden Euro hervorgebracht haben, werden sie, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlichen Erscheinungsformen wie die Juden diskriminiert und ausgeschlossen". Ich habe den Schriftsteller Zafer Senocak gefragt, verliert Faruk Sen für diese Äußerungen seinen Posten zu Recht?

    Zafer Senocak: Erst mal sind das natürlich sehr unglückliche Äußerungen, sehr schnell formuliert und etwas unbedacht. Das muss man schon mal festhalten. Vor allem, da ist natürlich, wenn man sagt, bis Mitte des 20. Jahrhunderts, und es wird ja auch im Text dezidiert auf das Nazi-Deutschland Bezug genommen, haben wir hier in Deutschland natürlich sofort die Shoah-Assoziation. Und ein solcher Vergleich ist unhaltbar für den Zustand, den wir heute in Europa haben, auch was die Minderheiten und auch die Türken angeht. Ich denke mal, Herr Sen wollte etwas ganz anderes. Er wollte eigentlich seine Solidarität mit den türkischen Juden ausdrücken, mit den Juden, die heute in der Türkei leben. Es gibt ja einen stärker gewordenen Antisemitismus leider auch in der Türkei. Und dieser Artikel bezieht sich eigentlich darauf. Er will eigentlich formulieren, wir sind solidarisch mit euch, gerade weil wir auch Erfahrungen machen, die Minderheiten betreffen. Aber das ist ein heißes Eisen, das ist sehr unglücklich. Das kann man natürlich hier im Kontext, im deutschen Kontext sehr, sehr stark missverstehen. Und ich glaube, es ist eben auch so missverstanden worden. Es liegt jetzt an ihm, das auszuräumen.

    Netz: Wüssten Sie, wie in der Türkei auf diesen Vergleich reagiert worden ist?

    Senocak: Soweit ich verfolgen konnte, gar nicht. Es ist natürlich kein großes türkisches Thema. Ich habe auch bei der Internetseite der Zeitung nachgeguckt, der Zeitung "Referans", wo dieser Artikel erschienen ist. Und soweit ich sehen konnte, gibt es da keinen einzigen Kommentar, keine Diskussion.

    Netz: Wie kann es denn nun passieren, dass jemand wie Faruk Sen, der schon so lange in Deutschland lebt, dass jemand sich so vergreift. Ist es vielleicht so, dass einfach die türkische Seite, mit der er da ja als Publikum gerechnet hat, dass er die als Folie vor Auge hatte?

    Senocak: Ja, ja. Das muss man schon erwähnen. Es gibt einfach ganz unterschiedliche Erinnerungsfäden. Die zu verknüpfen, das ist nicht einfach. Natürlich hat die türkische Gesellschaft ganz andere Erinnerungshintergründe als die deutsche. Nun ist aber jemand, der natürlich zwischen den beiden Ländern hin- und herpendelt, der sollte schon in der Lage sein, das einzuschätzen, wie seine Äußerungen hier und dort ankommen.

    Netz: Hinkt der Vergleich zwischen Judenverfolgung, 2000 Jahren und den Türken nicht auf jeden Fall, selbst wenn es nicht einen expliziten Holocaust-Vergleich gibt?

    Senocak: Vergleiche hinken immer. Vergleiche müssen ja hinken, sonst wären das keine Vergleiche, sondern sonst wäre das alles identisch. Das ist ja nicht identisch. Ich glaube, für unsere Diskussion in Deutschland würde es schon etwa bringen, wenn wir zum Beispiel ins 19. Jahrhundert schauen würden, in die Zeit, wo es um die Anerkennung, um die Gleichstellung der Juden ging, um den Begriff des Deutschseins. Und dann müssen wir uns die Frage stellen, inwieweit können wir uns heute von dieser Zeit distanzieren, wie weit haben wir uns entwickelt. Diese Frage sollte man stellen. Die wird aber ganz selten gestellt. Und wenn man immer deutsch-jüdische Geschichte erwähnt, dann ist natürlich in den meisten Fällen leider bis heute noch einfach, sind diese zwölf Jahre der Vernichtung im Vordergrund. Die deutsch-jüdische Geschichte ist sehr, sehr, sehr alt. Die geht ja ins frühe Mittelalter zurück. Und das sollte man sich schon genauer anschauen. Und es kommt natürlich da raus schon auch, durchaus, das wird ja auch gemacht. Es gibt ja vergleichende Studien, wie Mehrheiten und Minderheiten miteinander umgehen. Und das ist eine Frage, die durchaus gestellt werden kann. Nur die Nazi-Zeit zu erwähnen und dann eben diese Assoziation zu wecken, das ist mehr als unglücklich.

    Netz: Der Vorstand des Zentrums für Türkeistudien in Essen, der sagt jetzt, Sen habe dem deutsch-türkischen Verhältnis schwer geschadet. Glauben Sie auch, dass dieser Fall irgendwelche Auswirkungen hat über die Personalie hinaus? Hat es auch eine Symbolwirkung?

    Senocak: Das ist eine schwierige Frage. Ich finde, man muss fragen, woher kommt eine solche Meinung. Was gibt es für Ursachen? Wie ist das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit organisiert in unserer Gesellschaft. Das sind so Fragen, die man jetzt stellen könnte über diesen unglücklich und falschen Vergleich hinaus, dass man drüber nachdenken sollte. Deswegen habe ich das 19. Jahrhundert erwähnt. Ich kann das nur wiederholen. Warum wird das wenig diskutiert. Da wurde der deutsche Nationalstaat geschaffen, und da spielte natürlich das deutsch-jüdische Verhältnis auch eine große Rolle. Das ist ja heute kaum noch in Erinnerung. Wer erinnert sich an den Berliner Antisemitismusstreit Ende des 19. Jahrhunderts eigentlich, außer Fachleute? Das ist alles nicht mehr im Bewusstsein. Aber trotzdem gibt es sehr viel unterbewusst, sehr viel Handlungsweisen, die durchaus aus dieser Zeit noch stammen. Der Nationalstaat, der Nationalismus ist in Europa leider noch nicht überwunden. Der ist verdeckt. Und in Deutschland ist es noch mal komplexer wegen der deutschen Geschichte. Da sind alles sehr sensible, sehr schwierige Felder, die wir eigentlich immer wieder umgehen, die wir nicht richtig diskutieren, nicht in die Tiefe hineindiskutieren. Natürlich kann man das nicht auf der Basis eines solchen kleinen plakativen Artikels diskutieren. Das muss man auch mal sagen. So plakative Vergleiche, wie Herr Sen das in seinem kurzen Beitrag gemacht, das führt nicht weiter. Aber trotzdem kann man so was auch zum Anlass nehmen, weitere Fragen zu stellen.

    Netz: Der Schriftsteller Zafer Senocak über die zu simplen Antworten von Faruk Sen und die wirklich noch offenen Fragen.