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Jede Woche Freitag ein neuer "New Yorker"

Der "New Yorker", Stadtmagazin und weit mehr: Die Zeitschrift steht für die gute alte Zeit und für Analysen zur Gegenwart. Seine Reportagen sind berühmt, auch wegen des sorgfältigen Faktenchecks, den sich andere Medien nicht mehr leisten. Fans tapezieren ihre Wohnzimmer damit.

Von Almut Finck | 21.02.2020
    Verschiedene Ausgaben des "New Yorker"
    Seit der Erstausgabe 21.02.1925 ist der New Yorker eine wichtige Instanz an den Zeitungskiosken sowie in den Heimen der US-Amerikaner (imago images / Levine-Roberts)
    Norditalien, 1945. Ein amerikanisches Feldlazarett. Hannah Turner tröstet Verletzte, hält Sterbenden die Hand. Plötzlich spricht einer sie an: "Wenn Sie jetzt haben könnten, was Sie wollten, was wäre das dann?" Die amerikanische Rotkreuzschwester zögert nicht einen Moment. "Eine Ausgabe des New Yorker", antwortet sie. Und dann vergessen Hannah Turner und der verwundete Soldat, ein Student aus New Hampshire, für 15 Minuten das Grauen des Kriegs und reden über eine andere Welt, die vertraut ist und komisch und heil und sehr weit weg, die Welt des New Yorker.
    Am 21. Februar 1925 erschien die erste Nummer des Magazins, das schnell Kultstatus erwarb und heute noch hat. Das Titelbild damals: ein feiner Pinkel, ein Lackaffe, so der Literaturkritiker Lothar Müller, "ein Mensch, der eine Hutbedeckung trägt, die im 19. Jahrhundert wirklich sehr einen Aufschwung erlebt hat. Das ist der Zylinder."
    Eustace Tilly ist der Fantasiename, den Magazingründer und -herausgeber Harold Ross dem blasierten Herrn auf dem ersten Cover verlieh.
    "Das ist im Grunde ’ne Dandyfigur, die europäische Wurzeln auch hat."
    Keine Absage an die Provinz
    Nur dass im 20. Jahrhundert nicht mehr Paris das großstädtische Zuhause des Dandys ist – sondern New York, wo der Jazz lebt und der Swing, die Reklame, der Film, die Fotografie – Fotos gab und gibt es im New Yorker allerdings nie.
    Durch ein Monokel betrachtet der Snob von 1925 ein flirrendes Wesen, beweglich, schnell, schwer zu fassen – einen Schmetterling.
    "Er steht natürlich für Großstadtkultur. Die Ursprungsformel für den New Yorker war ja: Er soll das metropolitan life abbilden."
    Eine Absage an die Provinz steckt aber nur scheinbar dahinter.
    "Wenn der New Yorker nur New Yorker gewesen wäre, dann hätte er nicht so lange überlebt. Er musste auch das provinzielle Amerika in sich aufnehmen und hat das zum Beispiel getan durch die Erzählungen."
    Autoren wie James Baldwin und F. Scott Fitzgerald steuerten kunstvoll verknappte short stories bei, John Sheever, Irwin Shaw, später Woody Allen, John Updike, Erica Jong. Formexperimente waren nicht erwünscht, die literarischen Themen gefällig und unaufgeregt. Einzug hielten die dunklen Zeitläufte in den New Yorker gleichwohl. Autoren des Blatts tauchten ein in New Yorks raue Hafenwelt, besuchten Boxhallen und Fischmärkte, die rauchgeschwängerten Versammlungslokale von Gewerkschaften und Parteien. Ihre Reportagen machten aus einem Stadtmagazin einen Spiegel der Zeit. Etwa 1963.
    "Da ist Hannah Arendts Eichmann-Reportage erschienen."
    Ebenfalls in den 1960er-Jahren gab es mehrere Hefte ausschließlich mit Reportagen aus Vietnam. Das Wochenmagazin wurde Instanz der gesellschaftlichen Selbstreflexion der USA – und mehr.
    "Es ist auch ein weltweit politisch wahrgenommenes Blatt gewesen, und zurzeit ist es ja auch ein Anti-Trump Blatt."
    Ein besonderer Augenblick, flüchtig wahrgenommen
    Das Erfolgsgeheimnis des New Yorker ist eine einzigartige Mischung aus Ernsthaftigkeit und Witz, jedes Heft steckt voller Cartoons. Dazu brillante literarische Texte und: hinreißende Titelbilder, entworfen von den jeweils berühmtesten Illustratoren der Zeit, Rea Irvin, Perry Barlow, später Art Spiegelman, Saul Steinberg, Ronald Searle. Legendär das Cover nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001.
    "Die beiden schwarzen Türme vor ’nem schwarzen Hintergrund."
    Scharf durchschneidet die Antenne eines der Zwillingstürme den Buchstaben W im Logo des New Yorker. Ein visueller, zeitdiagnostischer Kommentar.
    "Da kann man nicht mehr mit Schmetterlingen kommen, dann muss man wirklich so etwas wie einen Grab-Stein setzen."
    Das Grunddesign der Cover ist immer gleich: ein angeschnittenes Bild mit einem schmalen, senkrechten Farbbalken an der linken Seite, horizontal das berühmte Logo am oberen Rand, The New Yorker. Von Zeichner William Steig, dem Erfinder des Monsters Shrek, stammt die wohl schönste Definition. Sie trifft auf den Schmetterling zu und auf die Türme nach Nine Eleven:
    "Für mich ist ein Titel des New Yorker wie ein Haiku – ein besonderer Augenblick, flüchtig wahrgenommen."