Donnerstag, 25. April 2024

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Seltsame Materie

"Der Fall Ophelia", so lautet die Siegergeschichte, mit der die Autorin Terézia Mora den diesjährigen Ingeborg- Bachmann-Preis gewonnen hat. Der allerdings drohte in diesem Jahr eher zum "Fall Haider" zu werden, da der rechtsgesinnte Kärntner Politiker zum ersten Mal als Preisübergeber seines Amtes walten wollte.

Claudia Kramatscheck | 01.01.1980
    "Ich rede eigentlich ungerne darüber, weil ich sehr froh darüber bin, daß diese Sache so glimpflich abgelaufen ist", kommentiert Mora die Geschichte. "Die ganze Veranstaltung ist dadurch nicht zu sehr politisiert worden; es bestand ja die Gefahr, daß alle über Haider reden, und keiner über die Texte. Aber um die Wahrheit zu sagen: wir hatten, bevor der Wettbewerb losging, ein Treffen mit allen 16 Autoren. Auch die Jury hatte extra ein Treffen. Ich ging in dieses Treffen mit der Überzeugung, es könne gar keine andere Entscheidung geben als daß dieser Preis nicht vergeben wird. Aber ein Drittel der Autoren sagte zu mir, ich solle ihnen weder ihre politische Meinung vorschreiben, noch könnten sie auf das Geld verzichten. Und dieses zweite Argument hat mich derart aufgeregt, daß ich dieses Treffen dann verlassen habe."

    Über den Preis freut Mora sich dennoch, zumal es der einzige gewesen sei, den sie bereits in ihrer Kindheit gekannt und daher bewundert hätte. 1971 kommt Mora in Ungarn zur Welt, in Sopron, einer größeren Stadt an der Grenze zu Österreich. Ihre Kindheit allerdings verbringt sie in einem kleinen "500-Seelen-Dorf" namens Petöhàza, das sie 1989 erleichtert erst Richtung Budapest zum Studieren, dann 1990 Richtung Berlin übersiedelnd verläßt.

    Ihrem Herkunftsort wendet sie sich in ihrem Debutband "Seltsame Materie" nun wieder zu: zehn Facetten, in denen sie die Repressionen dörflichen Alltages hinter der verlogenen Kulisse beschaulicher Idyllik bloßlegt.

    "Ich beschreibe das Leben, wie es tatsächlich ist in den archaischen Dörfern in Ungarn, worüber aber nicht gesprochen wird. Es gibt einen sehr schönen Satz von Bunuel, der gesagt hat: "Sein Glück war, daß er im Mittelalter aufwachsen durfte". Also bei mir war es nicht ganz das Mittelalter; als ein so großes Glück habe ich es auch nicht empfunden,dieses Gruseln, das ich als Kind vor dieser Welt hatte,in der ich lebte."

    Eine erbarmungslose Welt betreten wir, in der das Recht des Stärkeren noch immer über das Recht des Individuums vorherrscht. Von dem einzelnen Menschen wird nichts als bedingungslose Anpassung erwartet, wie das Getier hat er die rein primären Bedürfnisse eines nackten Überlebens zu befriedigen. Noch die Natur spiegelt diese rohe Archaik: Beseelt von fast magischen Kräften, ist sie entworfen als ein dunkles Reich des Elementaren, das von den Menschen nur Untergang fordern kann oder, selten einmal, unterwerfende Hingabe — wie sie, im Falle der Siegergeschichte, Ophelia im bergenden "Wasserleib" erfährt. Stets ist die Luft getränkt von Schweiß und Urin, den Duftnoten eines Zusammenseins roher Leiblichkeit.

    "Die Familie, das ist die Hölle des jeweils Anderen, in der alle einer Zweckgemeinschaft unterliegen und Wilderungen auch sexueller Art an der Tagesordnung sind: Bruder und Schwester, die wie in der Titelgeschichte "Seltsame Materie" an der Grenze zum Inzest in der Not ihrer inneren Einsamkeit miteinander verschworen sind; Väter, die Kinder nicht nur mit der Ehefrau gezeugt haben; Mütter, die sich noch an den erwachsenen Söhnen vergreifen, da die Männer ihr Jagdrevier woanders aufgeschlagen haben. Fast durchweg spielen in Moras Geschichten die Mütter, ja die Frauen überhaupt eine untergeordnete Rolle — wie auch, in einer von patriarchaler Macht strotzenden Welt, in der das 'Recht des Herrn' gilt.

    Gewalt ist daher die Sprache, die das soziale Gefüge dieser Welt reglementiert — und die noch die Frauen sprechen, da es die einzige Sprache ist, die sie kennen. Und die Liebe — ein "heißer, böser Atem" — bildet, wenn überhaupt, eine verzweifelte Allianz, ein letztmögliches Bündnis gegen die Anfeindungen der immer Anderen. Dieses Anderssein aber, vor allem der Prozeß der Stigmatisierung zum 'Anderen' in dieser auf Konformität beharrenden Welt durchzieht Moras Geschichten wie ein roter Faden. Immer aber scheint solch Außenseitertum Fluch und Adel zugleich zu sein, eine Art Kainszeichen:

    "Das entspringt schon meiner Biographie, denn dieses Anderssein habe ich immer deutlich gespürt; als Kind eher als große Belastung - erst später habe ich es als Chance erkannt, weil einer, der außen steht, eine umfassendere, zumindest aber eine andere Perspektive hat."

    Ihre Geschichten kennzeichnet daher, ohne einer aufdringlichen Politisierung zu verfallen, auch die bewußte Auseinandersetzung mit Ungarn als dem immer noch fremderen Teil Europas. Verständlich, daß sie der anstehenden Veröffentlichung ihres Buches in ihrer Heimat Ungarn mit gemischten Gefühlen entgegen sieht:

    "Es ist mir gleich, wie mein Buch, sagen wir in Frankreich, aufgenommen würde, falls man es übersetzte. Aber ich habe wahnsinnige Angst davor, wie es in Ungarn aufgenommen werden wird, denn es ist allein schon ein Verrat, auf deutsch zu schreiben, und dann auch noch so ganz anders zu schreiben als alle anderen in Ungarn. Das ist dann noch schlimmer."

    Was die ungarische Gegenwartsliteratur anbelangt, die sie doch auch als Übersetzerin solch namhafter Autoren wie Bartis, Darvasi, oder Tandori immer wieder ins Deutsche überträgt, so fühlt sie sich darin als ein "Kuriosum". Sie selbst hat sowohl das Deutsche als auch das Ungarische zur Muttersprache. Wo aber ist sie, die in deutsch schreibt, literarisch, ja sprachlich zu Hause?

    "Man muß dazu wissen, daß das ungarische Selbstverständnis und Nationalgefühl sehr stark durch unsere Dichtung geprägt sind, und soweit ich mich erinnern kann, war mein Leben von Zitaten überhäuft, und als ich auf ungarisch irgendwelche nie fertiggeschriebenen Texte aufschrieb, da habe ich all` diese Zitate darin gespürt, und das hat mich gestört und ich mußte dann Deutsch tatsächlich als literarisch brauchbare Sprache entdecken und dann innerhalb dieser Sprache (...) meine eigene; das schien mir im Deutschen leichter zu sein. Es war für mich zwar schwerer zu wissen, wo man das Komma hinsetzt, aber andererseits waren die Wörter für mich unverbrauchter. Ich fühlte mich als Ungarin, die in Deutsch schreibt, ein bißchen exterritorial und das habe ich eben jetzt als Chance begriffen. Ich sagte mir: So, jetzt bist Du offensichtlich weder ein Teil der ungarischen noch der deutschen Literatur, denn du bist eigentlich keine Deutsche, und das ist wundervoll, denn du kannst du machen, was du willst."

    In ihren Erzählungen wird diese Zerrissenheit zur Wehmut derer, die ihre Heimat verlassen mußten oder wollen, da nur das Anderswo ein besseres Leben zu ermöglichen schien:

    "Ich denke, daß das für die — ich spreche jetzt nur für die Ungarn, die ich hier kennengelernt habe — sehr sehr typisch ist. Sie leben hier und haben das deutliche Gefühl, daß sie in ihrer Heimat nicht leben könnten; andererseits sind sie natürlich voller Wehmut."

    Die wenigsten ihrer Figuren aber gelangen in den Status dieser inneren und äußeren Freiheit, nach der Mora in den Erzählungen immer wieder die Frage erhebt. Leben, so sagt eine ihrer Figuren, ist die "Belohnung für eine Prüfung", ein mit Kämpfen hart erarbeiterer Preis, wie im Falle der wortwörtlich um ihr Leben schwimmenden Ophelia:

    "Die Belohnung besteht nur darin, daß man am Leben bleiben darf. Nachdem man das Schlimmste überwunden hat, also in diesem Falle die Grenzen, im konkreten und im übertragenen Sinne, wird sich dieses Leben natürlich nicht als paradiesisch gestalten, sondern im Grunde so bleiben, wie es davor war. Man darf bloß von sich sagen, man hätte das Schlimmste überwunden."

    Die fast bedrohlich emotionale Intensität ihrer Geschichten kontert Mora durchgängig mit einer mal nüchtern verknappten, mal poetisch konzentrierten Sprache. Diese besticht vor allem durch Stimmungsbilder innerer und äußerer Zustände, die, auf das allernötigste der Wörter reduziert, wie Regieanweisungen gesetzt sind; die Geschichten selbst eilen in einem rasanten Cut-Up-Tempo von Episode zu Epsiode, von Bild zu Bild. Daß diese quasi filmischen Anleihen ihrer gleichzeitigen Tätigkeit als Drehbuchautorin geschuldet sind, hört Mora nicht so gerne:

    "Ich habe angefangen, Drehbuch zu studieren. Parallel zu diesem Versuch des dramatisachen Ausdrucks habe ich angefangen, Prosa zu schreiben; ich hatte das Gefühl, daß es für jede Geschichte die ideale Form gibt und daß man gewisse Geschichten, die ich erzählen wollte, auf dramatischem Wege nicht erzählen kann. Ich benutze dieses zweigleisige Schreiben im Grunde dafür, um möglichst viele von den Geschichten, die ich erzählen möchte, abzudecken und für jedes die geeignete Form zu finden."

    So unterschiedlich aber auch ihre Erzählungen sind: immer berühren sie alle Sinne, verstrahlen eine verstörende Irritation und lehren einen fast das Schauern — wie die Märchen in alten Zeiten:

    "Der "Ophelia"-Text stellt eine wahre Geschichte dar. Tatsächlich hat einmal jemand zu mir gesagt: Ich werde dich ertränken, weil du ein Kommunist und ein Faschist bist; ich war damals sieben, und diese sehr von Aberglauben und Vorurteilen geprägte dunkle Welt hat mich jedesmal erschreckt. Deswegen nenne ich ja auch das Buch "Seltsame Materie", denn diese seltsame Materie ist eben die Kindheit, in der ich vieles als sehr verstörend empfand und vielleicht auch als sehr grausam."