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Senioren und das Coronavirus
"Wegsperren macht krank"

Auch wenn das Coronavirus theoretisch jeden treffen kann, gelten ältere Menschen als besonders gefährdet. Die meisten Pflegeheime erlauben deswegen aktuell keine Besuche. Ein Zustand, den viele Betroffene als kontraproduktiv empfinden. Einige warnen vor den katastrophalen Folgen der Isolation.

Von Sebastian Engelbrecht | 30.03.2020
Eine ältere Frau schaut aus dem Fenster (gestellte Szene)
Besonders ältere und alleinstehende Personen können ihre Wohnung nicht verlassen und sind häufig einsam während der Kontaktbeschränkungen in der Coronakrise (Imago)
Ursel Wenzel weiß sich zu beschäftigen, auch in Zeiten der Isolation. An diesem Vormittag hat sie Kohlrouladen gekocht. Was sie heute nicht isst, friert die Hauswirtschaftsmeisterin im Ruhestand ein. Und: Die 82-Jährige empfängt in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding einen Journalisten zum Interview.
"Wir wollen alle Politiker auch darauf aufmerksam machen, dass sie sensibel werden für die alten Menschen. Nicht weg sperren. Wegsperren ist keine Möglichkeit. Wegsperren macht krank, im Haus zu sein macht krank und anfällig für den Virus."
Die Rentnerin Ursel Wenzel sitzt in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding auf einem Sofa
Rentnerin Ursel Wenzel in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
Ursel Wenzel spricht nicht nur aus ihrer eigenen Erfahrung des Alleinseins. Sie ist Mitglied der Seniorenvertretung von Berlin-Mitte. Mit einem Offenen Brief wandte sich die Vertretung jetzt an die Öffentlichkeit und warnte vor den "katastrophalen Folgen" der Isolation für alte Menschen, vor allem in Pflegeheimen.
"Man möchte sie einsperren zu Hause. Aber Menschen, die selber nicht entscheiden können, wo sie sein wollen, da ist es noch viel schlimmer, wenn die, die sie erwarten, nicht kommen dürfen. Denn viele können es nicht verstehen."
Coronavirus
Coronavirus (imago / Science Photo Library)
Leben fast in völliger Isolation
Die meisten Menschen in Pflegeheimen hätten kein Mobiltelefon oder könnten es nicht bedienen. Sie seien darauf angewiesen, dass die Schwester ihnen das Stationstelefon ans Ohr halte. Nachdem Besuche von Angehörigen vom Staat verboten wurden, leben viele in den Heimen jetzt fast in völliger Isolation. Vor den Folgen warnt die Psychotherapeutin Christina Jochim von der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung.
"Das erklärt sich von alleine, dass das dann dazu führen kann – sei es, dass es tatsächlich von einfach nur Gereiztheit, Sorge, schlechter Stimmung aufgrund von Isolation, aufgrund von Abgeschnittenheit vielleicht auch von Information und sozialem Kontakt die Lage sich mit der Zeit zuspitzen kann bis hin tatsächlich zu klinischer Depression, Verzweiflung bis hin zu sogar vielleicht Suizidgedanken."
Ständig sei davon die Rede, dass die Alten besonders gefährdet seien, durch das Corona-Virus krank zu werden, sagt Ursel Wenzel. Auch das liege ihr auf der Seele.
"Wer sagt denn, dass ich zuerst krank werde? Normalerweise halten 80-Jährige oder auch 70-Jährige keine Corona-Parties ab. Die 70-Jährigen gehen auch nicht in eine Disco."
Karten oder Brief schreiben gegen die Einsamkeit
Ein Lichtblick in ihrem Alltag ist der tägliche Spaziergang an der frischen Luft. Frau Wenzel hofft, dass ihr der nicht auch noch verboten wird.
"Für mich persönlich ist nur der Gedanke, dass ich vielleicht nicht mehr spazieren kann – das macht mir Angst. Es wird gesagt, dass man das auch nicht mehr soll."
dpatopbilder - 13.03.2020, Nordrhein-Westfalen, Heinsberg: Ein Desinfektionsmittelspender hängt im Johannes-Sondermann-Haus des AWO Altenzentrums während im Hintergrund Seniorinnen spielen. Durch die Ausbreitung des Coronavirus wird derzeit bundesweit über ein Besuchsverbot in Altenheimen und Pflegenheimen diskutiert. Foto: Jonas Güttler/dpa | Verwendung weltweit
"Viele Angehörige befürchten einen Schub in der Demenz"
Für Bewohner von Pflegeheimen sei es bitter, wegen der Coronakrise keinen Besuch mehr zu bekommen, sagte Ulrike Kempchen vom BIVA-Pflegeschutzbund im Dlf. Besuchsverbote seien rechtens, allerdings gehe es um Verhältnismäßigkeit, um kreative Problemlösungen – und um genug Personal dafür.
Was also kann den Alten helfen? Ursel Wenzel macht Vorschläge.
"Aufmerksam machen darauf, dass es Briefschreiben wieder gibt, eine Karte schicken, dass vielleicht die überlasteten Pflegekräfte auch bereit sind, einen Telefonanruf weiterzuleiten an die Menschen, die selber kein Handy haben."
Und die Psychotherapeutin Jochim empfiehlt, "dass ich einen großen physischen Abstand wahre, aber dafür vielleicht von draußen vom Balkon oder auf großen Abstand mich trotzdem melde, Unterhaltung führe oder eben einmal mehr anrufe zum Beispiel."
Psychotherapeutin Christina Jochim
Die Psychotherapeutin Christina Jochim (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
Jochim rät dazu, allein lebenden älteren Nachbarn ein Hilfsangebot zu machen, zum Beispiel per Brief. Sinnvoll seien auch Hilfstelefone wie das sogenannte "Silbernetz" oder die Telefonseelsorge, um die Isolation zu brechen.
"Mein Ansatz wäre tatsächlich eher der, ganz konkret das ins Bewusstsein zu rücken, dass es eben nicht nur um den Schutz im Sinne eines Infektionsschutzes geht, sondern auch um den Schutz der psychischen Gesundheit geht."
Die Seniorenvertretung von Berlin-Mitte bittet die Pflegeheime deshalb "eindringlich, für ausreichend Kontaktmöglichkeiten im vertretbaren Rahmen zu sorgen".