Dienstag, 23. April 2024

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Sensitiver, sensibler Chronist

Der promovierte Historiker Felix Hartlaub stand in engstem Kontakt zur Führungselite der Nationalsozialisten. Kurz vor Kriegsende verschwand er unter nie geklärten Umständen. In seinem Nachlass fand sich das bisher unveröffentlichte Tagebuch seiner Italienreise.

Von Cornelia Staudacher | 13.11.2013
    Felix Hartlaub war 18 Jahre alt, als er im Juni 1931 an der vierwöchigen Studienfahrt nach Italien im Rahmen des "Wandermonats" der Odenwaldschule, an der er 1933 das Abitur ablegte. teilnahm. Die Reisegruppe bestand aus sieben Schülern und vier Schülerinnen und dem betreuenden Lehrer Werner Meyer.

    Von Basel ging es im Zug über die Alpen, dann vom Lago Maggiore über Genua und Cinque Terra bis nach Florenz, in langen, zum Teil nächtlichen Fußwanderungen durch Steineichen- und Pinienwälder, Oliven- und Orangenhaine, über asphaltierte Landstraßen, Feldwege oder schmale Küstenpfade. Nur gelegentlich wurden kurze Strecken mit der Tram oder der Eisenbahn zurückgelegt. Ein Reisetagebuch zu führen, war obligatorisch für alle Teilnehmer; es wurde nach der Rückkehr ausschnittweise in der Schülerzeitung veröffentlicht.

    Nun ist das Reisetagebuch des Schülers Felix Hartlaub achtzig Jahre nach seiner Entstehung mit den Weihen der Literatur versehen worden. Und das zu Recht, vermittelt es doch in Verbindung mit den 39 eindringlichen Federzeichnungen von Stadtansichten und Landschaften Hartlaubs einen so lebendigen Eindruck, dass es geeignet ist, Erinnerungen zu wecken und die im Nordmenschen angelegte Italien- oder Mittelmeersehnsucht zu schüren: In der Sammlung der stichwortartigen Beschreibungen der Orte, der Landschaft und Vegetation, vermischt mit Bemerkungen über das Wetter, das Essen, die eigene Gemütsbewegung und die Stimmungen unter den Mitschülern werden Augen und Ohren, Geruchs- und Geschmacksnerven gleichermaßen angesprochen.

    "Rasttag in Askona. Morgens Spaziergang in den Gassen. Kopfpflaster. Brunnen mit Löwenköpfen. Heiligenbilder. Dann zieht alles an den Lago, wo wir den ganzen Tag bleiben. Halb überschwemmte Weidengegend. See und Bergzüge in mattem, violetten blendendem Dunst, bewölkter Himmel. Baden, sonderbare Stimmung, Meyer zuerst abwesend. Katinka seziert eine Eidechse, der Peterli Kohler erlegt hat. Aquarellieren: milchweiße Zone am Seeufer. Gegen Mittag wird es wärmer, Oberfläche des Sees beinahe lauwarm. Schwimmen, Sonnenspiegelung, glänzende Schneeberge. Plastische Spätnachmittagsbeleuchtung. Berge, Baumwuchs smaragdgrün, schöner Farbenschmelz. Abends kleine Radrundfahrt, steile Gassen, Kirche, Hafen. Mildes Abendlicht. Nicht restlos von der Landschaft beglückt."

    Der Reisebericht ist weit entfernt von dem, was der Bildungsbürger beim Titel "Italienische Reise" assoziiert. Das Budget dieser Reise war, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, knapp. Übernachtet wurde meist in Zelten, die in Olivenhainen oder auf Grundstücken von Bekannten des Lehrers aufgeschlagen wurden, oder in einfachen Pensionen. Das Mittagessen wurde in kleinen Trattorias oder Gartenwirtschaften eingenommen. Das Frühstück bestand oft nur aus Milch und dem für Nordeuropäer gewöhnungsbedürftigen "salzlosen Brot". Trotz solch beschwerlicher Begleitumstände aber war es eine Geist und Sinne animierende Reise.

    "Wundervoller Rastplatz oberhalb der Straße, auf privatem Grundstück. Liebenswürdige italienische Familie, Haus mit ummauertem Hof, Torbogen, weiße Mauer, Zelte unter niedrigen Esskastanien, bunte Wiese, oberhalb Felsen mit Ginster. Abendessen. Pasta u. Chianti am Steintisch."

    "Nach dem Abendessen Baden. Eine vollkommene Landschaft zeigt sich vom Meere aus. In drei Gürteln legt sich das Flachland ans Meer. Der nasse Sand, in dem sich der Abendhimmel spiegelt, dann die Dünen, silberngelb vom Strandgras, dann der Pinienwald, nicht hoch, aber dicht den Badeplatz umstehend, in tapferem Dunkelgrün. Hinter diesen waagerechten Streifen, voll von besonderen Farben, schwingen sich, unbeeinträchtigt und schön, die apuanischen Alpen vor dem dünnen Himmel dahin, wie das erste Gebirge der Welt."

    Hartlaub ist ein sensitiver, sensibler Chronist, mit einer unstillbaren, fast obsessiven Neigung, alles aufzuschreiben, was er sieht, hört, fühlt, schmeckt, bemerkt. Wie mit dem Auge einer Kamera versucht er, rein am Phänomen orientiert, jede Linie, jede Farbnuance so genau wie möglich in Worten wiederzugeben. Nichts entgeht seinem konsequent nach außen gerichteten Blick. Alles wird stichwortartig in loser Aufzählung notiert, als ob es irgendwann einmal weiter verwendet werden soll. Obwohl es sich um ein Tagebuch handelt, meidet der Autor bis auf wenige Ausnahmen die erste Person Singular.

    Und doch entsteht in den sachlich distanzierten, unpersönlich erscheinenden Notaten eine Intensität und Plastizität, die an die Wirkung gelungener Gedichte erinnert. Die kühle Inbrunst und nüchterne Akribie, mit der sich Hartlaub der Landschaften, Orte und Kunstwerke annimmt, erinnert an die Versachlichung, Verdinglichung, die Rilke zum poetologischen Prinzip seiner in Paris entstandenen Ding-Gedichte erhoben hat, die inspiriert waren von der Nähe zu Rodin und seinem Werk. Auch Hartlaub kommt es darauf an, die Wirklichkeit eines Gegenstandes unter weitgehender Ausschaltung der Fantasie durch die Sprache nicht einfach wiederzugeben, sondern nachzuempfinden. Wie bei der Beschreibung des Höllenfreskos im Campo Santo in Pisa.

    "Leben der Einsiedler in der Thebais, Weltgericht und Triumph des Todes. Weltgericht. Die ungeheure Angst und Verzweiflung der Verdammten tief erschütternd. Frauen, die sich gegenseitig vorwärts zerren. Anderen mit noch fürstlichen Mienen zieht der bodenlose Schreck den Mund herunter. Dem Beschauer selber bricht der Angstschweiß aus. Körperlichkeit, Ineinander von Blick und Gesten. Wundervoll Zorn und Gnade im Gesicht des Weltenrichters, wie es dem Blick eines aus dem Grabe Steigenden begegnet. Christus zeigt stumm seine Wundmale."

    Auch bei der Beschreibung der Fülle von Kunstwerken aus Renaissance und Barock in den Uffizien in Florenz besticht die Direktheit und Treffsicherheit der Wortwahl des zwischen kühler Distanz und stiller Begeisterung taumelnden Tagebuchschreibers. Unüberhörbar auch die Wirkung der kunsthistorischen Schulung, die Hartlaub durch den Vater früh erfahren hatte.

    "Filippo Lippi. Die Anbetung der Könige von Lionardo. Alles krümmt, erniedrigt sich mit alten, wehmütigen Gesichtern und staubigen Bärten vor der lächelnden Madonna mit dem Kind. Fantastisch die Schatten von Gerüsteten rechts und die mächtigen Pferdeköpfe."

    "Dann fängt es mit Botticelli an. Der Mann mit der Medaille, die Verleumdung, sehr hart und erdacht. Schön bewegt ist die Gruppe der auf den gequälten Richter Einredenden und der braune Mann mit Fackel, der ihm den Arm entgegenstreckt, schrecklich der leere Himmel hinter der gelehrten Architectur. Dahinter der Haupt-Botticellisaal: das Magnificat, Minerva und der Zentaur, der braune Johannes in rotviolettem Tuch, mit wehem Mund auf der Krönung Mariae, die Bildchen der Predellen. Der blaugrüne Zephyr, der aus dem Hain heraus mit drolligem Windsgesicht die atemlose Chloris umfängt, das streng leuchtende Gesicht der Frühlingsgöttin. Die Verschiedenheit und Umarmung der beiden Winde auf der Geburt der Venus. Die Gestalten nicht nur in der dargestellten Handlung aufgehend, oft den Beschauer mit geheimnisvollen Blicken streifend. Alles im Halblicht, gleich fern der mythischen Zeit und der Allegorie als auch der Wirklichkeit. "

    Im Aufsatz "Was mir das Zeichnen bedeutet", der 1932, also ein Jahr nach der Italienreise in der Zeitschrift "Der neue Waldkauz" erschien, schreibt Hartlaub von der "viel härteren und direkteren Berührung zwischen Ich und Natur". Und es hat den Anschein, dass sich diese direkte Berührung bereits auf die Versprachlichung der Reiseeindrücke ausgewirkt hat. Der hier angeschlagene Ton weist auf den Schreiber der Kriegstagebücher voraus, als der sich Hartlaub dreizehn Jahre später betätigen wird.

    Jürgen Becker, der sich in "Ränder" 1968 ausdrücklich auf Hartlaub bezieht, rühmt den "magischen", "kalten" und "genauen" Duktus seiner Kriegstagebücher. Hier wie dort ist hinter der exakten, kühlen Beobachtungsgabe und prägnanten Formulierungskraft die schriftstellerische Begabung des Autors erkennbar. Seine Schreibhaltung nimmt in ihrer Nüchternheit und Prägnanz den Sprachduktus der Schriftsteller der Nachkriegsgeneration voraus. So ist zu vermuten, dass der vielseitig Begabte, der auch ein fleißiger Briefschreiber war, nachdem er die Schreibblockaden der jüngeren Jahren überwunden hatte, einer der wichtigen Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland hätte werden können, den wieder zu entdecken durchaus lohnenswert ist.

    Felix Hartlaub, Italienische Reise. Herausgegeben von Nikola Herweg und Harald Tausch. Suhrkamp Verlag Berlin 2013, 105 Seiten, 17,95 Euro.