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Sergej Lebedew: "Kronos‘ Kinder"
Wenn sich russische Gänse in deutsche Soldaten verwandeln

Immer wieder hat die Großmutter dem kleinen Kirill Gräber mit deutschen Namen gezeigt. Als Kirill erwachsen und Historiker geworden ist, beschließt er, dem auf den Grund zu gehen. Er macht sich daran, die bewegte Geschichte seiner deutschen Vorfahren im Zarenreich und in der Sowjetunion zu erforschen

Von Eberhard Falcke | 16.11.2018
    Buchcover: Sergej Lebedew: „Kronos‘ Kinder“
    Bildhaft lebendige Prosa: Für "Kronos‘ Kinder" hat Sergej Lebedew in den Archiven von Halle und Berlin seine deutschen Wurzeln recherchiert. (Buchcover: S. Fischer Verlag; Foto: picture alliance / dpa )
    Seltsame Dinge erlebte der kleine Kirill einst in jenem Dorf nicht weit von Moskau, wo seine Familie ein kleines Landhaus besaß. Damals wurde seine Großmutter Lina, die keinerlei Angst vor einem gerade tobenden Gewitter zeigte, von einer schlichten Lichtspiegelung in der Fensterscheibe so erschreckt, dass sie in Ohnmacht fiel. Zugleich brannte in der Nachbarschaft das Haus eines alten Mannes ab, dem noch immer seine Kriegserlebnisse beim Kampf gegen die Deutschen im Kopf herum spukten. Wenn der Alte, den man Spieß nannte, im Vollrausch seinen Rappel bekam, dann glaubte er in den Gänsen der Nachbarin die "Fritzen", nämlich die deutschen Feinde zu erkennen, die er, wie Kirill voller Entsetzen beobachtete, mit seinem Karabiner zur Strecke brachte:
    "Kirill wollte sich hinter dem Sandhaufen verbergen, wusste aber, es war zu spät - Spieß hatte ihn entdeckt, mit jenem Blick entdeckt, der Gänse in Deutsche verwandelte."
    Die geheimnisvollen Hinweise der Großmutter
    Daran erinnert sich der inzwischen erwachsene Kirill am Anfang von Sergej Lebedews Roman "Kronos‘ Kinder". Außerdem weiß er noch sehr gut, dass die Panik, die er als kleiner Junge empfand, wenn bei dem Alten der traumatische Deutschenhass hochkochte, mit den Friedhofsbesuchen zusammenhing, bei denen ihn seine Großmutter zu alten Gräbern mit deutschen Namen geführt hatte. Und erst kürzlich war in ihm wieder eine unbestimmte Angst erwacht, als er auf der Rückreise von Berlin nach Moskau vorübergehend festgenommen worden war. Mit anderen Worten: Kirill hat deutsche Vorfahren, aber keine Ahnung, ob das für ihn in der russischen Gesellschaft noch Konsequenzen hat und was das für die Geschichte seiner Familie bedeutete. Immer hat er in seinem Beruf als Historiker über andere geforscht, nun will er sich der eigenen Herkunft zuwenden:
    "Er fühlte deutlich, dass der Weg in die Zukunft über dieses Buch führte. Hier, im Sommerhaus, lagerten die Papiere aus dem Familienarchiv, all das Material, das er gesammelt hatte: Dokumente, Artikel, Exzerpte. Noch zeigten sie alles, waren bereit, mit ihm Zwiesprache zu halten."
    Wechselhafte Schicksale der Russlanddeutschen
    Obwohl Lebedew die Anregungen zu dieser Geschichte bei den deutschen Vorfahren seiner eigenen Familie fand, behandelt er den Stoff mit der Freiheit der Fiktion. Und der Romantitel "Kronos‘ Kinder" lässt verschiedene Deutungen offen. Denn das mythologische Schicksal der Kinder des Titanen ist bekanntlich widersprüchlich, sie werden von ihrem Vater zwar verschlungen aber durch eine List des Zeus später wieder herausgewürgt. So waren auch die Russlanddeutschen im Kampf zwischen Stalin und Hitler den verschiedensten Formen von Einverleibung und Ausstoßung ausgesetzt. Einen speziellen Fall stellte allerdings Andreas dar, der bei der Kaiserlich Russischen Marine als Offizier Karriere machte. Er wurde bei einer Weltumsegelung von Kannibalen gefressen, was ihm in der Familienchronik den Namen "der gepökelte Fähnrich eintrug". Dieser Andreas war der Bruder des bald berühmten Dr. Balthasar Schwerdt, der 1830 Leipzig in Richtung des Zarenreiches verließ. Er war es, der den russischen Zweig der Familie begründete und zunächst sieben Jahre nicht ganz freiwillig am Hof eines Fürsten nach Mitteln für das ewige Leben forschen musste.
    All das rekonstruiert der Nachfahre Kirill als Familienhistoriker, der auch von seinen Recherchereisen nach Leipzig und Wittenberg berichtet. So eindringlich wie Kirills anfängliche Erinnerungen an seine Kindheit in Gesellschaft der Großmutter, die voll war von intensiv-rätselhaften, halb magischen Impressionen, geraten jedoch nur noch wenige Passagen des Romans. Schließlich muss der biographische Stoff mehrerer Generationen in Kurzform skizziert werden, was bei der Lektüre oftmals nur schwache Eindrücke hinterlässt.
    Große Geschichte, blasse Figuren
    Natürlich klingt es zunächst vielversprechend, wenn wir auf Arsenij treffen, der sich, anstatt in deutscher Wertarbeit Kanonen zu produzieren, dafür entscheidet, Militärarzt zu werden. Doch dann flimmert diese Figur in so blasser Zeichnung durch die historischen Erzählkulissen, dass sie weder als Handelnder noch als Charakter Kontur gewinnt. Wie es bei solchen kursorischen Beschreibungen von Lebensstationen häufig der Fall ist, kommt dabei die erzählerische Textur von Details, Psychologie, Atmosphäre oder individuellen Beweggründen über weite Strecken zu kurz und die Präsenz der Figuren beschränkt sich weitgehend auf die Nennung ihrer Namen:
    "Arsenij Schwerdt kam auf das Panzerschiff von Vizeadmiral Roschestwenskij. Obwohl das Schiff bereits zwei Jahre zuvor zu Wasser gelassen worden war, musste es an der Anlegestelle zunächst noch zuende gebaut werden. Arsenij lebte derweil in der Stadt."
    Viel deutlicher als die Menschen werden die historischen Ereignisse und Kräfte erkennbar, von denen Kirills Vorfahren durch die Zeiten geschoben und gestoßen wurden. Und da bietet Lebedew doch einige Vergangenheitsbilder, die ihre Wirkung nicht verfehlen, sei es aus dem Ersten Weltkrieg, den Zeiten des stalinistischen Terrors oder der Hungerblockade von Leningrad. Das ist vor allem der bildhaft lebendigen Prosa des Autors zu verdanken, die auch bereits vielfach abgehandeltem Geschichtsstoff einigen Spannungsreichtum abgewinnen kann.
    Die Politik von Verdacht und Denunziation
    Den zweifellos stärksten Akzent setzt Lebedew jedoch, wenn er die bereits während der Zarenherrschaft im Ersten Weltkrieg einsetzenden Feindseligkeiten gegen die Russlanddeutschen als Anfangspunkt der Politik von Verdacht und Denunziation markiert, die dann unter Stalin zur vollen Entfaltung kam:

    "Beim Durchblättern der antideutschen Regierungsdokumente sah Kirill, wie in
    Russland der Totalitarismus geboren wurde – noch vor dem Machtantritt der Bolschewiki –, und wie ein repressiver Staat entstand, wie in der Gesellschaft die Bereitschaft wuchs, den Terror gutzuheißen, überall "Fremde", Werwölfe, Agenten des Bösen aufzuspüren, die schuld an allem Elend im Lande waren."
    Als Roman einer Recherche hat "Kronos‘ Kinder" zahlreiche Facetten. Einige davon vermögen zu glänzen, andere wirken eher stumpf. Insgesamt aber gelingt es Sergej Lebedew die Geschichte der Russlanddeutschen im Zarenreich und der Sowjetunion mit dem passionierten Blick eines Nachgeborenen eindrucksvoll in Erinnerung zu rufen.
    Sergej Lebedew: "Kronos‘ Kinder"
    Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main. 380 Seiten 24,00 Euro.