Serie "Innenansichten mit" dem Medienkünstler Costantino Ciervo

Die Kunst gehört nicht dem Künstler

Costantino Ciervo bringt verschiedene analoge und digitale Medien zusammen in seiner Kunst.
Costantino Ciervo bringt verschiedene analoge und digitale Medien zusammen in seiner Kunst. © René Fietzek
Von Aureliana Sorrento · 19.02.2021
Diesmal nimmt uns der aus Neapel stammende Künstler Costantino Ciervo mit auf eine Erkundungstour durch seine Wahlheimat Berlin. Von seinem Wohnatelier im Prenzlauer Berg, geht es nach Kreuzberg, zu Ciervos alter Galerie in Charlottenburg und zu einer Ausstellungseröffnung des deutschen Künstlerbundes.
In dieser Sendung geht es mit dem Fahrrad quer durch Berlin, um wichtige Orte im Leben des Künstlers Costantino Ciervo zu besuchen. 1984 ist er mit 23 Jahren nach Berlin-Kreuzberg gezogen, wo er mit Freunden aus Neapel über dem Rockmusik-Club "Bronx" wohnte. Sie seien in der linken außerparlamentarischen Bewegung, die in Italien der Studenten- und Arbeiterrevolte von 1968 folgte, aktiv gewesen, erzählt er. Aber das Projekt sei gescheitert. Für ihn war die politische Enttäuschung ein Grund, Italien den Rücken zu kehren. Hinzu kam, dass er als Lehrer in einer Jugendhaftanstalt hautnah erlebte, wie Korruption gesellschaftlichen Fortschritt verhinderte. "Und unter den vielen Zielen war Berlin die erste Adresse, weil in West-Berlin die politische Aktivität und das Leben überhaupt noch sehr aktiv war und die Stimmung unglaublich gut für kreative Arbeiter."
Das private und berufliche Leben des Medienkünstlers Ciervo, hier unterwegs mit dem Fahrrad in Berlin, ist eng mit der Geschichte vieler Stadtteile dort verwebt.
Das private und berufliche Leben des Medienkünstlers Ciervo ist eng mit der Geschichte vieler Stadtteile in Berlin verwebt.© René Fietzek
Heute arbeitet Costantino Ciervo im Prenzlauer Berg. In der Atelierwohnung im Erdgeschoss eines Hinterhauses lebt er auch mit seiner Partnerin und seinem 17-jährigen Sohn. Gerade arbeitet Ciervo mit dem italienischen Dichter Marco Mantello zusammen an einer Installation. Ein Gedicht Mantellos ist zentraler Bestandteil der Arbeit: Drei Monitore sind in einen grauen Quader eingelassen, auf den Bildschirmen das Blau des Meeres. Unter den Monitoren befindet sich eine Inschrift aus Neonröhren "Mare Nostrum", der Titel der Installation. "Unser Meer", so nannten die Römer das Mittelmeer, das Binnenmeer des Römischen Reichs – damals ein Verbindungsweg zwischen den Kontinenten, heute ein Massengrab für flüchtende Menschen.
Auf der tiefblauen schaukelnden Wasseroberfläche, die anfangs zu sehen ist, erscheinen im mittleren Monitor rote Nähmaschinenstiche, die nach und nach die Verse von Marco Mantellos Gedicht bilden, sich über die Fläche aller drei Monitore ausbreiten, auf den Wellen schaukeln, und sich schließlich langsam wieder auflösen. Mantello liest: "Wenn du Legalität sagst, im Singular, als gäbe es davon nur eine heilige, nur deshalb, weil sie legal ist, verwechselst du die dreckige Moral deiner eigenen Angelegenheiten und deines Zuhauses mit den Namen aller Toten im Meer." Beim Ansehen des Videos habe er den Eindruck, dass ihm das Gedicht nicht mehr gehöre, sagt Mantello. Ciervo nickt lächelnd. "Ja, die Kunst gehört eigentlich nicht uns. Die Kunst gehört denen, die darauf reagieren, die davon Gebrauch machen."
Berlin im Wandel der Zeit
Dann geht es auf nach Kreuzberg, in die Görlitzerstraße zwischen dem Görlitzer Park und der Spree. Heute ein Hotspot der Gentrifizierung. Früher war das anders, erinnert sich Costantino Ciervo an die Zeit Anfang der 1980er Jahre: "Ich habe mit meiner Frau und mit dem Kind der Frau, das drei Jahre alt war, hier gewohnt. Es hat natürlich nach Terpentin gestunken, gleichzeitig gab es andere Probleme, Kakerlaken überall. In der ersten Etage gab es einen Puff, also es gab besondere Kunden hier, die herumliefen in der Nacht und nebenan gab es ein besetztes Haus, in dem Haus wohnten Punks. Die waren schon sehr sympathisch, nur manchmal hatten sie laute Musik, sogar Lautsprecher aus den Fenstern gestellt, um Punkmusik gegen türkische Musik zu spielen. Es gab einen Wettkampf zwischen den beiden Kulturen sozusagen."
Bis 1989 hat Costantino Ciervo vor allem gemalt. Dann ging er zu installativen Arbeiten über. "Ich wollte meine Gedanken, meine Kreativität nicht mehr nur darstellen, ich wollte interagieren mit der Welt, mit dem Publikum. Zumal ich die Möglichkeit hatte, durch mein Wissen Interaktion zu realisieren, durch Sensoren, Elektronik." Wissen, das er sich auf einem technischen Gymnasium angeeignet hatte. 1993 wurde er zur Biennale in Venedig eingeladen. Dort zeigte er eine Wandinstallation, die aus 64 Schaltungen und Modulen bestand, außerdem Kameraobjektiven, Relais, Kabeln und einem Bewegungsmelder, durch welchen das Publikum in das System einbezogen wurde und auf die Schaltungen einwirken konnte.
Die Autorin Aureliana Sorrento interviewt den Künstler Costantino Ciervo in dessen Wohnatelier im Prenzlauer Berg. Im Hintergrund sind große Maschinen und Werkzeug zu sehen.
Die Autorin Aureliana Sorrento und der Künstler Costantino Ciervo in dessen Wohnatelier im Prenzlauer Berg.© René Fietzek
1995 fand Costantino Ciervo einen Galeristen in Berlin: Rafael Vostell, der Sohn des Fluxus-Künstlers Wolf Vostell. Er lud Ciervo und andere Künstler zu einer Gruppenausstellung ein, worauf eine Einzelausstellung für Costantino Ciervo in der Galerie Vostell folgte. Die Fahrradtour in die Vergangenheit des Künstlers führt auch an den Räumen der ehemaligen Galerie in der Knesebeckstraße 30, Berlin-Charlottenburg, vorbei. Heute befindet sich hier ein Modeladen, der Kleidung aus Kaschmir verkauft.
(Über)leben mit der Kunst
"Rafael Vostell hat mich gefördert", sagt Ciervo, "für ihn war meine Kunst, auch wenn sie eine unbequeme Kunst war, überhaupt kein Problem. Ich konnte wirklich frei arbeiten, sehr politisch, mit verschiedenen Materialien, ohne dass man so im Blick den Markt hat, und das war ganz, ganz wichtig". Doch wie lässt sich kapitalismuskritische Kunst machen, eine Kunst, die die Gesetze des Marktes unterläuft, sie in Frage stellt, und zugleich als Künstler leben, Geld verdienen, eine Familie ernähren? Auch wenn es schwierig ist, Costantino Ciervo gelingt das seit 1996, als er seinen Hausmeister-Job im Museum am Checkpoint Charlie schmiss. "Einerseits versuche ich mit antikapitalistischen Projekten reine Kunst zu machen, auf der anderen Seite arbeite ich ganz traditionell, wie ein Bildhauer. Ich schaffe Skulpturen, Zeichnungen, Objekte, die verkäuflich sind, die man auch in einer Galerie ausstellen kann, die man auch Sammlern anbieten kann. Das Geld, das ich dort verdiene, investiere ich in unverkäufliche Kunst."
Costantino Ciervo steht vor einem Plakat mit der Aufschrift "Send Protest".
Costantino Ciervo sieht den Künstler als Regisseur, der dem Publikum die Möglichkeit gibt, sich selbst einzubringen.© René Fietzek
So wie die App "Send Protest". Mit einem Plakat fordert der Künstler sein Publikum dazu auf, sich die App herunterzuladen, um dann Bilder und Videos von Dingen und Situationen zu posten, gegen die man sich zur Wehr setzen möchte. Das Plakat ist Teil einer Ausstellung des deutschen Künstlerbundes in der Nähe des Checkpoint Charlie. Im Gespräch mit der Geschäftsführerin Angelika Richter erklärt der Künstler seine Idee: "Es geht darum, dass der Künstler verschwindet. Dass die Künstler aus dem Publikum bestehen und der Künstler zu einer Art Regisseur wird. Und das Bild entsteht durch den Pinsel der anderen, aber nicht des Künstlers selbst."
Kunst und Corona
Während des ersten Corona-Lockdowns im Frühling 2020 ist Costantino Ciervo zu seinem ursprünglichen Medium zurückgekehrt: der Zeichnung. Das Zeichnen verleihe ihm Energie, sagt er. Auch habe er viel gelesen. "Und wie andere auch, habe ich soziale Medien genutzt, Skype etwa, um Kontakte zu pflegen, zu meiner Familie, zu meinen Freunden in Italien oder irgendwo in der Welt und natürlich in Deutschland oder in Berlin. Aber ich habe bemerkt, die virtuelle Realität kann niemals ersetzen, was der Körper spürt." Die Finanzen hätten ihm anfangs große Sorgen bereitet. "Zum Glück habe ich es doch geschafft, per Telefon ein Kunstwerk zu verkaufen", erzählt er lachend. Außerdem hätten ihm die Hilfen vom Staat sehr geholfen, genauso wie zwei Museumsausstellungen, die parallel noch in der Schweiz und in Korea liefen.
Kunst sei aber nicht mehr das Allerwichtigste in seinem Leben. "Bis zum Jahr 95/96 dachte ich, dass die Kunst alles ist. Aber dann habe ich durch Erfahrung gemerkt, dass es nicht so ist. Dass, wenn man sich zu sehr auf die eigene egoistische Haltung gegenüber der Kunst konzentriert, dann opfert man, zusammen mit der Gesundheit, das Wichtigste im Leben: die menschlichen Beziehungen. Seitdem versuche ich, wenn ich Kunst mache, die Beziehungen zu meinen Kindern, zu meiner Freundin, zu meinen Freunden, weiter zu pflegen. So, dass das Ganze in Einklang kommt."
Erstsendung 20.11.2020
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