Dienstag, 16. April 2024

Serie: Kandidaten zur Europawahl
Frischer Wind für die EU - aus dem Süden

In unserer Serie schauen wir im Vorfeld der Europawahl vom 25. Mai auf verschiedene EU-Länder und stellen einzelne Kandidaten vor. In Portugal ist das Vertrauen in die EU auf einen historischen Tiefstand gesunken. Erstmals tritt nun die Partei "Livre" ("Frei") an. Livre verfolgt einen anderen Ansatz als die meisten portugiesischen Parteien: Freiheit, Ökologie und Europa heißen die Schlagworte. Das Ziel: Europa neu aus dem Süden definieren.

Von Tilo Wagner | 21.05.2014
    Windräder stehen Windräder auf einem Hügel bei Valenca do Minho in Nord-Portugal.
    Windräder bei Valenca do Minho in Nord-Portugal. (dpa / Uwe Gerig)
    Vor der Neuen Universität Lissabon stehen ein paar Frauen und Männer und verteilen Flyer an Studenten und Uni-Mitarbeiter. Sie tragen mattgrüne T-Shirts und kleine Fahnen mit einer aufgedruckten Mohnblume. Die Mittel für den Wahlkampf sind beschränkt, denn die Partei Livre ist jung. Bei der Europawahl treten ihre Kandidaten zum ersten Mal an.
    Carlos Teixeira ist mit dem Wahlkampf trotzdem zufrieden. Der Biologe mit dem kurz geschnittenen Backenbart steht auf Listenplatz Nummer drei:
    „Unsere Partei setzt sich für die Studenten ein. Zum Beispiel für das Erasmus-Programm. Wir glauben, dass Erasmus ganz wichtig ist, um eine europäische Identität zu formen."
    In Portugal gibt es im laufenden Wahlkampf kaum eine andere Partei, die so viel und so konstruktiv über Europa redet. Während die fünf großen Parteien, die bisher in Straßburg vertreten sind, über die Zukunft Portugals nach dem Ausstieg aus dem Euro-Rettungsschirm streiten, fordern kleinere Linksparteien gleich das Ende des Euro oder der Europäischen Union.
    Das "Ulysses"-Projekt: Europas Süden produziert die Energie für den Norden
    Die Partei Livre unterscheidet sich von ihnen, und das liegt vor allem an ihrem Spitzenkandidaten und Parteigründer Rui Tavares: Der 41-jährige promovierte Historiker saß als unabhängiger Abgeordneter in der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament. Tavares will mit seiner Partei ganz neue Akzente setzen:
    „Wir müssen neue Kapitel des europäischen Fortschrittsgedankens schreiben. Was sind heute unsere Ziele, die auf dem gleichen Niveau stehen wie die historischen Errungenschaften des 8-Stunden-Arbeitstags, des Wahlrechts für Frauen oder des allgemeine Wahlrechts? Darüber müssen wir in der europäischen Linken diskutieren. Ein paar Vorschläge haben wir bereits: Europäische Universitäten schaffen; die europäische Demokratie aufbauen; den Gewerkschaften das Recht geben, vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen und die Einführung eines Grundeinkommens für junge Europäer. Sie können diese staatlichen Zuschüsse nutzen, um ihre eigenen Unternehmen zu gründen oder andere Ideen zu verwirklichen."
    An Ideen mangelt es Rui Tavares nicht. Der schmächtige Mann mit den runden Brillengläsern hat bereits ein wirtschaftspolitisches Projekt ins Leben gerufen. Mit „Ulysses" will er die Rolle südeuropäischer Staaten in der EU neu definieren. In Zukunft soll Südeuropa die Energie für den Norden produzieren soll. Als Vorbild nennt Tavares die Tennessee Valley Authority, die der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er-Jahren im Rahmen seines New-Deal-Aufbauprogramms gegründet hatte. Ihr Ziel war es, in große Energieprojekte im verarmten Süden der USA zu investieren.
    "Der jetzige Sparkurs wird gravierend schlechte Folgen für Europa haben".
    Auch die EU müsse jetzt eine Regierungsbehörde gründen, fordert Tavares, die den Ausbau von erneuerbarer Energie im Süden Europas in großem Maßstab koordiniere. Der jetzige Sparkurs dagegen werde gravierend schlechte Folgen für Europa haben, warnt Tavares
    „Bürger aus Mittel- und Nordeuropa, die glauben, dass Politiker wie Samaras in Griechenland oder Passos Coelho in Portugal die besten Verbündeten seien, haben sich kräftig getäuscht. Diese Politiker mögen zwar die Anweisungen der Troika pflichtbewusst umsetzen, aber sie zerstören damit den europäischen Geist in Ländern, die immer sehr pro-europäisch waren. Ihre Politik führt nicht nur zu sozialen Konflikten in den Krisenländern im Süden Europas, sondern sie führt zu einer tiefen Spaltung der europäischen Kultur."
    Damit hat auch die Partei Livre zu kämpfen. Selten waren in Portugal europäische Themen so unpopulär wie im laufenden Wahlkampf. Das Vertrauen in die Europäische Union ist auf einen absoluten Tiefststand gesunken. Und es gibt noch andere Gründe, warum die neue Partei in Portugal am Wahltag scheitern könnte: Im linken Parteienspektrum drängeln sich bereits die gemäßigten Sozialisten, die Kommunisten und der Linksblock.
    Aus den Umfragen zur Europawahl lässt sich nicht herauslesen, wie stark die Partei Livre wirklich ist. Wenn sie es schafft, einen Teil der vielen unzufriedenen Wähler für sich zu gewinnen, könnte zumindest Spitzenkandidat Rui Tavares in Straßburg weiter an seinen europäischen Projekten basteln.