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Serie "Mindhunter"
Im Kopf eines Serienmörders

Die neue Netflix-Serie "Mindhunter" begibt sich so brutal wie bravourös in die Abgründe der menschlichen Psyche. Regisseur David Fincher zeigt sich in Höchstform. Das, was wir hier sehen, ist also authentisch - nicht nur eine Krimiserie, sondern ein kriminalpsychologisches Drama, eine Verbrecherstudie.

Von Julian Ignatowitsch | 16.10.2017
    Regisseur David Fincher
    "Mindhunter" ist die neue Serie von "House of Cards"-Regisseur David Fincher (dpa / epa Paramount Pictures / Ho)
    "Es ist nicht einfach, jemanden abzuschlachten, das ist harte Arbeit."
    Natürlich ist das eine unheimliche Vorstellung: in den Kopf eines Serienmörders vorzudringen, sich mit ihm zu identifizieren, sich einzufühlen, in seinen Plan, seine Tat, seinen bestialischen Mord:
    "Man muss sich einmal abreagieren!"
    Einer wie Charles Manson, nicht Mensch, sondern …
    "Ein Monster, richtig?"
    Kann, nein, darf man bei so jemandem überhaupt nur an Verständnis denken?
    "Haben Sie gewusst, dass seine Mutter im Gefängnis saß und Prostituierte war, dass sie, als er zehn war, seinem sadistischen Onkel angedreht hat, ein fanatischer bibeltreuer Christ, der ihn fast zu Tode schlug und ihn verhöhnte, dass er nie ein Mann werden würde. Charles reagierte darauf, indem er Zuhälter und bewaffneter Räuber wurde. Im Gefängnis wurde er weiter brutalisiert. 1967, der Sommer der Liebe, wurde er entlassen und unser Albtraum begann."
    Also: Darf man?
    "Er wurde so geboren." - "Und wie?" - "Einfach böse." - "Das klingt ein wenig nach altem Testament, oder? Gut, böse, schwarz, weiß - das klingt einfach. Aber wer in diesem Raum hat ein Leben, das einfach ist?"
    In der Anfangszeit der Kriminalpsychologie
    Die Lebensbedingungen beeinflussen das menschliche Verhalten. Das System schafft Verbrecher. In der Polizei- und Ermittlungsarbeit der 70er-Jahre war diese (aus heutiger Sicht selbstverständliche) These revolutionär, ja geradezu demagogisch.
    "Wie kommen wir den Verrückten zuvor, wenn wir nicht wissen, wie die Verrückten denken?"
    Die Serie Mindhunter folgt den beiden FBI-Agenten Holden Ford und Bill Tench, wie sie in einem zerrütteten Amerika 1977 - das Jahrzehnt von Watergate, Vietnam und späten Hippies - den Anfang der Kriminalpsychologie begründen.
    "Wird man kriminell geboren oder dazu gemacht?"
    Sie reisen von Staat zu Staat, halten Vorträge, helfen bei laufenden Ermittlungen und interviewen die berüchtigtsten Massenmörder des Landes.
    "Ich habe nicht gerade viel Besuch. Und wenn es so wäre, glauben sie, dass die über diesen Mist reden wollten? Ist so als ob man in einem Schlachthaus mit Vieh arbeitet, das ist ein echter Gesprächskiller."
    Authentisches, kriminalpsychologisches Drama
    Gespräche mit Psychopathen, die in einem Moment ganz normal, dann unmenschlich, monströs erscheinen. Die Serie zeigt das in langen Dialogen, in Gesprächsprotokollen zwischen Gefängniszelle und Polizeidezernat, wobei sich die FBI-Agenten nicht nur mit den schlimmsten Verbrechen, sondern auch mit überalterten bürokratischen Strukturen innerhalb des FBI auseinandersetzen müssen:
    Ford: "Wir müssen die aktuelle wissenschaftliche Meinung kennen." - Chef Shepard: "Sie wollen sich doch nicht auf Akademiker verlassen?" - Ford: "Es geht mir darum, den aktuellen Stand zu wissen." - Shepard: "Wenn es darum geht: Besuchen sie unsere Bibliothek seit 1972 ist alles neu." - Ford: "Das ist fünf Jahre her …"
    Jonathan Groff auf dem Roten Teppich bei den Tony Awards 2016
    Jonathan Groff spielt in der neuen Netflix-Serie "Mindhunter" den FBI-Agenten Holden Ford (imago stock&people/UPI Photo)
    Mindhunter und sein Protagonist Holden Ford basieren auf einer wahren Geschichte, die der ehemalige FBI-Agent John E. Douglas in einem gleichnamigen Buch aufgeschrieben hat. Douglas und sein Partner interviewten Ende der 70er-Jahre 36 Serienmörder.
    Das, was wir hier sehen, ist also authentisch - und "Mindhunter" damit nicht nur eine Krimiserie, sondern ein kriminalpsychologisches Drama, eine Verbrecherstudie - genau das hebt die Produktion aus den vielen immer gleichen Neuerscheinungen mit der Frage "Who's done it?" hervor. Hier geht es nicht um "Wer", sondern um "Warum". Konsequenterweise bleiben allzu eindeutige Antworten dabei aus.
    "Erwarten Sie immer Kompliziertes?"
    Die bis dato beste Neuerscheinung 2017
    Für so einen Stoff ist keiner besser geeignet als David Fincher, der Netflix mit "House of Cards" ja sozusagen großgemacht hat. In "Mindhunter" spürt er (mal wieder) der Psyche des Verbrechens nach, dem Abnormen in Gestalt des Massenmörders, wie schon in seinen großartigen Kinofilmen "Sieben" und "Zodiac". Und dass er dafür nun ein paar Stunden mehr Zeit hat - wunderbar! In vier der zehn Episoden führte Fincher selbst Regie und hielt als Produzent durchgehend die Fäden in der Hand.
    Das Ergebnis ist so brutal wie bravourös! Charakterentwicklung, ein roter Faden, Konflikte - all das zeichnet sich nur langsam ab und entwickelt nach und nach einen höllischen Sog. Bester Serienstoff eben. Und nicht weniger ist "Mindhunter": Die bis dato beste Neuerscheinung 2017!
    "Mindhunter" - die erste Staffel ist jetzt auf Netflix abrufbar.