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Serientäter mit einer Vorliebe für Jungfrauen

Der polnische Autor Marek Krajewski hat in Deutschland eine treue Fangemeinde. Nun ist der sechste Band seiner Breslau-Krimireihe erschienen. Mit "Finsternis in Breslau" erweist sich Krajewski als einfallsreicher Interpret der Minotaurus-Saga.

Von Marta Kijowska | 30.07.2012
    "Die Morgendämmerung schwebte über dem Alten Markt. Der rosa Schimmer drang zwischen ärmliche Buden und Stände, in denen die Verkäuferinnen ihre Kessel mit Borschtsch und Pierogen aufstellten, und brach sich auf den Schirmmützen der Batjaren, den Lemberger Ganoven, die in den Hauseingängen standen, unentschlossen, ob sie endlich schlafen gehen oder warten sollten, bis die nahe gelegene Schenke aufmachte."

    Das ist also die erste Überraschung: der Handlungsort. Marek Krajewski führt uns diesmal in das alte Lemberg, die Hauptstadt Galiziens. Der Titel des Romans hat aber trotzdem seine Berechtigung: Schon ein paar Seiten später finden wir uns nämlich in Breslau wieder, wo in einem kleinen Hotel die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird. Ihr Anblick ist so entsetzlich, dass es sogar dem alten Zyniker Eberhard Mock die Sprache verschlägt.

    "Diese blutigen, halbmondförmigen Spuren entstanden, weil mit den Fingern und Fingernägeln Druck ausgeübt wurde", erklärte Dr. Lasarius. "Das Opfer wurde erwürgt. Es wurde vergewaltigt, dann wurde ihm das halbe Gesicht abgebissen, schließlich wurde es erstickt. Das kam zum Schluss."

    Das Verbrechen versetzt die Stadt in Angst und Schrecken – finster geht es hier aber auch aus anderen Gründen zu: Es sind die späten dreißiger Jahre, in Breslau geht das Gespenst des Faschismus um, und gleichzeitig wimmelt es von diversen Fanatikern, Gaunern und Spekulanten. All das gibt dem Ort eine düstere, geheimnisvolle Aura. In dieser Hinsicht ist sich Marek Krajewski treu geblieben.

    "Mich hat schon immer alles Geheimnisvolle fasziniert. Selbst als Kind hatte ich eine Schwäche für Romane und Filme, die etwas Rätselhaftes, Unheimliches, Horrorartiges an sich hatten. Doch ich las auch von früh an Kriminalromane. Die Bücher von Raymond Chandler etwa verschlang ich schon als Zehnjähriger. Ich liebe also das Geheimnis, die Dunkelheit, und ich mag keine Happy Ends. Mir gefällt es, wenn ein Buch traurig ausgeht bzw. ein Ende hat, mit dem man nicht unbedingt zufrieden ist. So haben mich eben meine literarischen und filmischen Vorbilder geformt."

    Auch hinter dem Verbrechen an der jungen Frau scheint irgend ein schreckliches Geheimnis zu stecken. Man vermutet, dass die Ermordete polnischer Nationalität war, zumal sie, wie man bald weiß, mit dem Zug aus Lemberg gekommen ist. War sie vielleicht eine Spionin? Hat der Mord politische Hintergründe? Das soll Mock möglichst schnell herausfinden, und dazu wird er nach Lemberg geschickt. Die Stadt ist ihm völlig fremd, dennoch fühlt er sich dort bald ganz wie zu Hause, zumal sein polnischer Kollege, Kommissar Edward Popielski, ihn angenehm überrascht: Er spricht nicht nur perfekt Deutsch, sondern ist ihm auch in vielen Dingen ähnlich.

    "Beide waren sie aufbrausend, cholerisch und pedantisch. Beide beherrschten die klassischen Sprachen Latein und Griechisch, spielten leidenschaftlich gerne Schach und Bridge. Beide gaben sich der Leidenschaft für Essen und für gefallene Frauen hin."

    Diese spiegelbildartige Ähnlichkeit ist eine der Schwächen des Romans. Ein anderer Typus würde sich im Falle Popielskis allein aufgrund seiner besonderen Lebensumstände anbieten: Er ist Witwer, hat eine heranwachsende Tochter und lebt zusammen mit ihr und seiner unverheirateten Cousine. Als deutlicher Kontrast zu dem Deutschen hätte er aber auch für zusätzliche Spannung oder für Komik sorgen können. Stattdessen sind die beiden Männer oft kaum voneinander zu unterscheiden, zumal Mock im wesentlichen ganz der Alte geblieben ist. Nur ist er diesmal ein wenig zurückhaltender, zumal das neue politische Klima in Deutschland danach verlangt.

    "In Breslau durfte man nicht mehr über Politik diskutieren. Man musste korrekte Meinungen äußern und den kleinen Österreicher anhimmeln."

    Krajewskis größte Leistung besteht aber nicht in der Analyse der politischen Stimmung in Breslau, sondern in der genauen Schilderung Lembergs. Man erfährt aus dem Buch viele topografische Details, man liest über die Eigenart der galizischen Juden oder den Klang des lokalen Dialekts. Kostproben des Letzteren gehen zwar in der Übersetzung verloren, man bekommt aber auch so eine Vorstellung von dem viel gerühmten Vorkriegscharme der Stadt. Dafür sorgt der Autor in einem klaren und ruhigen, wenn auch manchmal etwas zu akkuraten Erzählstil.

    "Die Fantasie und das Temperament eines Autors müssen ja irgendwie gebändigt werden. Das passiert eben durch das Wort, die Grammatik, die Semantik, durch den Gebrauch passender Synonyme. Hier muss ich an ein Interview mit Jonathan Littell denken, das ich mal gelesen habe: Auf die Bemerkung des Interviewers, in seinem Roman Die Wohlgesinnten würde es so viele grausame und beklemmende Stellen geben, antwortete er: "Wenn ich einen makabren Passus schreibe, denke ich nicht an die Leichen. Ich denke an die Kommas."

    Woran der Altphilologe Krajewski beim Konzipieren seines Romans dachte, kann man schon am Originaltitel erkennen: "Das Haupt des Minotaurus". Dem griechischen Mythos entsprechend entpuppt sich der Breslauer Mörder als ein Serientäter, der es auf Jungfrauen abgesehen hat. Wer zum Schluss als sein Bezwinger Theseus fungieren wird, glaubt man spätestens dann zu wissen, als Popielskis Tochter Rita in Gefahr gerät. Dann betritt aber eine neue Figur – ein sadistischer Aristokrat – den Plan, und man beginnt zu ahnen, dass es sich um eine sehr freie Interpretation der Minotaurus-Saga handelt. Dabei erweist sich Marek Krajewski als ein wirklich einfallsreicher Interpret.

    Marek Krajewski: Finsternis in Breslau.
    Ein Kriminalroman mit Eberhard Mock.

    Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. dtv, München 2012. 350 Seiten. 9.95 Euro.