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Sexualität und Sprachlosigkeit

Im Mittelpunkt des Romanes "Am Strand" von Ian McEwan steht die Hochzeitsnacht eines jungen Paares. Schon die ersten Zeilen des Buches bereiten den Leser darauf vor, dass es Komplikationen geben wird.

Von Johannes Kaiser | 04.02.2008
    "In gewisser Hinsicht wird es schwerer. Das Schreiben eines Romans ist eine Frage von Durchhaltevermögen und Geduld. Ich fürchte mich davor, dass die eigene Lampe vielleicht ein wenig matter brennt, wenn man älter wird, aber das ist eine nützliche Furcht. Um weiterhin gut schreiben zu können, muss man sich immer in dem Zustand befinden, sich selbst zu beweisen, dass man noch gut schreiben kann. Ich habe nie das Gefühl: jetzt weiß ich, wie man es macht, und haue alle zwei Jahre einen Roman raus. Ich habe immer das Gefühl, ich müsse jedes Mal meine Sprache wiedererfinden. Es wird nicht einfacher."

    Diesmal hat Ian McEwan in seinem jüngsten Roman "Am Strand" einen Ton gefunden, der an die epischen Erzähler des 19. Jahrhunderts erinnert, orientiert an Autoren wie Tschechow. Das ist kein Zufall, denn ähnlich wie diese hat sich der englische Erfolgsautor diesmal einschlossen, einen gottgleichen, allwissenden Erzähler einzusetzen, der selbst in den intimsten Momenten dabei ist, seinen Protagonisten in den Kopf schaut, ihre Ängste und Hoffnungen genau kennt. Solch ein Kunstgriff verlangt stilistische Sicherheit, denn wenn etwas merkwürdig klingt, kann sich sein Schöpfer nicht damit rausreden, dass seine Figur so und nicht anders redet. Hier muss jedes Wort sitzen, und das ist denn auch der Fall, erklärt die Faszination des schmalen Werkes, das vordergründig sehr eindimensional wirkt, nur ein Thema zu kennen scheint, aber schon bald zahlreiche andere keineswegs zufällig streift. Im Mittelpunkt steht die Hochzeitsnacht eines jungen Paares, und schon die ersten Zeilen des Buches bereiten den Leser darauf vor, dass es Komplikationen geben wird.

    "Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren."

    Das kann einfach nicht gut gehen. Wie bei allen Romanen Ian McEwans hat man von Anfang an ein mulmiges Gefühl, weiß, dass die Katastrophe geradezu unvermeidbar hinter der Fassade der Normalität lauert. Es sind nur wenige Momente, die darüber entscheiden, kleine Fehler, eigentlich unbedeutende Missverständnisse, die die Ereignisse aus dem Ruder laufen lassen, ihnen eine völlig unerwartete Wendung geben. Diesmal entscheidet sich das Schicksal an dem unscheinbaren steinigen Strand von Chesil Beach.

    Wir befinden uns in England Anfang der 60er Jahre. Durch puren Zufall treffen kurz nach Studienende der Historiker Edward und die Musikerin Florence aufeinander. Sie verlieben sich nicht zuletzt deshalb ineinander, weil beide einem unerträglichen Elternhaus entfliehen wollen. Edward hat miterleben müssen, wie sich der Verstand seiner Mutter nach einem Unfall so verwirrt, dass sie sich aus dem Alltag verabschiedet. Edwards Vater, ein Lehrer auf dem Land, muss sich um Kinder, Haushalt und Schule kümmern - eine Aufgabe, die ihn überfordert. Florence wächst in Wohlstand auf, ihr Vater ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, ihre Mutter Philosophie-Professorin in Cambridge. Beide egoistische, selbstbezogene Menschen, die der Tochter wenig emotionale Wärme geben können. Der Erzähler deutet sogar einen möglichen sexuellen Missbrauch der Tochter durch den Vater an.

    Beide erhoffen sich von ihrer Liebe jene Geborgenheit, jenes Verständnis, dass sie zu Hause nicht bekommen konnten. Dabei übersehen sie, wie viel ihre Welten trennt. Edward liebt den aufkommenden Bluesrock, fühlt sich von dessen rebellischer Attitüde angezogen, wenn ihm jemand quer kommt, schlägt er auch mal zu. Florence kennt nur intellektuelle Wortgefechte. Als leidenschaftliche Cellospielerin findet sie in der Klassik innere Ruhe, blüht in ihrem Quartett auf. Was die beiden wieder eint, dass sie wie alle jungen Menschen die Welt ihrer Eltern ablehnen, davon träumen, alles anders zu machen, die Konventionen abzustreifen, sich vom Staub der Vergangenheit zu befreien.

    "Die Ewiggestrigen, die in Gedanken noch im letzten Weltkrieg kämpften und sich Disziplin und Entbehrung auf die Fahnen schrieben - deren Zeit war abgelaufen. Die Hoffnung, dass sich alles schon bald zum Besseren wenden und jugendlicher Eifer wie Dampf unter Druck nach einem Ventil suchen würde, verband sich für Florence und Edward mit der Begeisterung für ihr eigenes, gemeinsames Abenteuer."

    Die sexuelle Revolution, das antiautoritäre Aufbegehren, die politische Revolte der Jugend gegen das Establishment leuchten bereits am Horizont auf. Aber noch ist davon wenig im Alltag zu spüren. In ihrer Erziehung, in ihrem Gefühlsleben haben sich beide Liebenden noch lange nicht von den gesellschaftlichen Normen ihrer Eltern trennen können, und genau diese Unfähigkeit verhindert, dass sie über sich und über ihre Ängste, ihre sexuellen Wünsche reden können. Miteinander darüber sprechen ist unvorstellbar. Beide haben zudem, wie uns der allwissende Erzähler miterleben lässt, völlig verschiedene Vorstellungen von der körperlichen Liebe. Während Edward sich in Lustfantasien ergeht und sich für die Hochzeitsnacht aufspart, ein fataler Fehler, spürt Florence nur grenzenlose Panik vor dem Akt.

    "Vor allem ein Wort schien ihr nichts als Schmerz zu verheißen: Penetration, ein Wort, als ob jemand Fleisch mit dem Messer zerteilte."

    Die in der Musik so selbstbewusste Florence wird in der Liebe zur völlig verunsicherten und deswegen empfindungslosen jungen Frau, die Angst davor hat, frigide zu sein. Zwei Welten stoßen in der Hochzeitsnacht aufeinander, und die geradezu beklemmende Sprachlosigkeit mündet in panikartiges Verhalten, in schwere Kränkungen.

    Ian McEwan variiert hier ein Thema, dass ihn schon immer fasziniert hat:

    "Wenn man eine Liebesgeschichte schreibt, dann braucht man Schwierigkeiten. Eine Liebesgeschichte ohne Schwierigkeiten ist keine Liebesgeschichte. Dinge müssen schief laufen, es müssen Hindernisse zwischen den Liebenden stehen wie gesellschaftliche Herkunft oder Konventionen. Ich brauchte eine Gesellschaft mit klaren Strukturen, und mir scheint, wir können das nur noch in der Vergangenheit finden. Würde ich ein zeitgenössisches Paar wählen, träfen die sich wahrscheinlich in einer Disco, und heute wäre es wohl üblich, dass sie zuerst Liebhaber und später vielleicht auch Freunde werden. Der ganze ausgeklügelte Tanz, in dem all die Schwierigkeiten stecken könnten, wird versagt."

    Dass der Tanz in die Vergangenheit verlegt wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch heute noch bei aller offen zur Schau gestellten Sexualität oftmals dieselbe bedrohliche Sprachlosigkeit herrscht. Damit beantwortet sich auch eine Frage, die sich auf den ersten Seiten des Buches stellt. Was geht mich das an? Ich lebe doch in viel aufgeklärteren Zeiten. Eine Illusion, ein Irrtum. Es dauert nur heute etwas länger, bevor man es merkt.


    Ian McEwan: Am Strand
    Übers. Bernhard Robben
    Diogenes Verlag, Zürich 2007
    208 Seiten, 18,90 Euro