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Sexuelle Gewalt im US-Sport
“Eine Kultur der Komplizenschaft"

Strafrechtliche Ermittlungen gegen den obersten Mann im Nationalen Olympischen Kommitee und die Festnahme des ehemaligen Turnverbandspräsidenten zeigen: Der Skandal um den sexuellen Missbrauch im Sport in Amerika ist in den obersten Etagen angekommen.

Von Jürgen Kalwa | 16.12.2018
    Der frühere Teamarzt der US-Turner, Larry Nassar, vor Gericht in Lansing, Michigan.
    Der frühere Teamarzt der US-Turner, Larry Nassar, vor Gericht in Lansing, Michigan. (AFP / JEFF KOWALSKY)
    Die Untersuchung dauerte zehn Monate, mehr als hundert Zeugen wurden interviewt und über eine Million Dokumente ausgewertet. Das in dieser Woche präsentierte Ergebnis ist eindeutig. Dass ein einzelner Arzt jahrelang hunderte von Turnerinnen sexuell missbrauchen konnte liegt auch an einem strukturellen Problem: Die Spitzenfunktionäre interessieren sich nicht für schlechte Nachrichten.
    US-Fernsehsender berichten: "Verbandsverantwortliche wussten früh von den Anschuldigungen gegen Larry Nassar, den Mannschaftsarzt der Turnerinnen."
    "Ihre Reaktion? Untätigkeit und Verschleierung."
    "Kollaps an moralischer und organisatorischer Verantwortung"
    Während die amerikanische Öffentlichkeit erneut empört auf die Enthüllungen reagierte, sahen sich zwei Senatoren im Kongress in Washington gezwungen, sich ganz unmittelbar einzuschalten. Sie forderten das Justizministerium auf, ein strafrechtliches Verfahren gegen den scheidenden Chef des Olympischen Komitees der USA, Scott Blackmun zu eröffnen. Der langjährige Sportfunktionär habe sie ganz offensichtlich im Rahmen ihrer Untersuchungen im Senat angelogen. Eine Straftat und etwas, was Richard Blumenthal, einer der beiden Politiker, bereits vor Monaten befürchtet hatte:
    "Es hat einen Kollaps an moralischer und organisatorischer Verantwortung gegeben. Eine Kultur der Komplizenschaft, die Nassar und anderen entgegengekommen ist."
    Die Lage ist ernst, nicht nur für Blackmun, sondern unter anderem auch für Larry Penny, den langjährigen Turnverbandspräsidenten, der kurz nach Bekanntwerden des Nassar-Skandals zurückgetreten war. Und der im zuständigen Senatsausschuss bei einer Anhörung eine miserable Figur abgegeben hatte. Er weigerte sich, Fragen zu beantworten, weil er befürchtete, sich selbst zu belasten:
    "Mein Anwalt hat mich angewiesen, mein Recht auf Aussageverweigerung in Anspruch zu nehmen", sagte Penny.
    Er wurde im Oktober überraschend während eines Ferienaufenthalts in Tennessee verhaftet. Ermittler aus Texas wollten wissen, was aus Dokumenten aus dem Trainingszentrum der Nationalmannschaft, der sogenannten Karolyi Ranch, geworden war. Penny hatte dafür gesorgt, dass das Material über den ehemaligen Mannschaftsarzt in die Verbandszentrale in Indianapolis überstellt wurde. Anschließend war es jedoch schlichtweg verschwunden.
    Hohe Gehälter für Funktionäre, zu wenig Geld für Prävention
    Immerhin: Nachdem es im November überraschenderweise wieder auftauchte, leitete das National Olympische Komitee als Aufsichtsorgan ein Verfahren ein. Es soll USA Gymnastics den offiziellen Status als Repräsentant der amerikanischen Turnbewegung entziehen. Weil aber der Turnverband beim zuständigen Insolvenzgericht einen Konkursantrag stellte, wurden alle Ansprüche eingefroren: insbesondere die Schadenersatzforderungen der sexuell belästigten Turnerinnen
    So weit wird es beim NOK jetzt nicht kommen, auch wenn die Probleme dort beachtlich sind. Symptomatisch: Die Spitzenfunktionäre erhalten Jahresgehälter von einer halben Million Dollar. Und gleichzeitig leidet das neue, gegen sexuellen Missbrauch ankämpfende Projekt SafeSport unter Ressourcen-Knappheit. Dabei sind die Zahlen besorgniserregend:
    Safesport erklärt: "Zwischen sechs und dreizehn Prozent aller jungen Sportler werden Opfer von sexuellen Missbrauch."
    Gesperrte Trainer weiter aktiv
    Gleichzeitig bestätigte sich – ebenfalls in dieser Woche – was der namhafte Sportpsychologe Steven Ungerleider dem Deutschlandfunk vor kurzem gesagt hatte:
    "Wir haben noch immer Trainer, die von einer Stelle zur anderen wandern, ohne dass ihre Namen auf der Verbotsliste auftauchen oder sie jemand belangt. Das NOK weigert sich. Sie haben alle möglichen Gründe dafür."
    Recherchen der Zeitung USA Today ermittelten sechs Trainer, die noch immer aktiv sind, obwohl sie wegen sexueller Straftaten gesperrt wurden.
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