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Sexuelle Gewalt in Indien
Die Tat nach der Tat

Vergewaltigung gilt in Indien als geduldetes Verbrechen. Die Regierung hat zwar die Gesetze verschärft und Frauenrechtsorganisationen kämpfen für die Opfer, aber die Diskriminierung von Frauen lässt sich nicht so schnell beenden. Auch die Religionen tragen zur Verharmlosung sexueller Gewalt bei.

Von Mechthild Klein | 15.01.2018
    Derei junge Inderinnen in Kalkutta schauen auf ihre Smartphones
    Können sich junge Inderinnen Hoffnung auf eine gleichberechtigte Zukunft machen? (dpa / EPA / Piyal Adhikary)
    Seit dem Tod der indischen Studentin Jyoti Singh vor gut fünf Jahren ist Schweigen unmöglich geworden. Frauen und Männer protestieren gemeinsam auf den Straßen Neu Delhis gegen die laxe Gesetzgebung, gegen Vergewaltiger oder die Polizei, die die Anzeigen verschleppte.
    "Es hat das Schweigen über Vergewaltigung gebrochen. Viel mehr Leute kämpfen für eine Anklage. So gibt es jetzt viel mehr Anzeigen gegen sexuelle Gewalt, Belästigung oder andere Verbrechen – diese Anzeigen sind jetzt belegt in großer Zahl und das ist eine positive Entwicklung", sagt Meenakshi Ganguly. Sie ist Südasien-Direktorin von Human Rights Watch.
    Eine indische Frau demonstriert am 5. Januar 2013 für Respekt gegenüber Frauen - Anlass ist eine grausame Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in Delhi.
    Eine indische Frau demonstriert am 5. Januar 2013 für Respekt gegenüber Frauen - Anlass ist eine grausame Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in Delhi. (EPA / STR )
    Obwohl die indische Regierung viele neue Programme aufgelegt hat und die Gesetze verschärft hat, hat sich die Situation für die überlebenden Frauen nur in Teilen gebessert. Insbesondere in ländlichen Gebieten gibt es Probleme. Oder wenn die Täter Macht und Einfluss haben. Zum Beispiel als Landbesitzer können sie die Polzeiarbeit behindern oder Zeugen bestechen.
    Erstmals rücken die Täter in den Fokus
    Meenakshi Ganguly: "Ein Problem ist die kulturelle Bestätigung der Täter, weil die meisten Inder immer noch glauben, dass Frauen und Mädchen zu Hause sicher seien. Sie sollten nicht draußen unterwegs sein, wenn es dunkel wird. Sie sollten auch keine Kleidung tragen, die sie eventuell gefährden könnte. Jetzt hat der indische Premierminister sehr offen gesagt, dass sich Eltern mehr darum kümmern sollten, was ihre Söhne machten, anstatt ihre Töchter zu beaufsichtigen. Das ist eine starke Aussage."
    Damit rücken erstmals die Täter, die Vergewaltiger in den Fokus. Bislang sah die Mehrheit in Indien nämlich die Opfer, die Frauen als mitschuldig an. Sie würden mit ihrer Kleidung die Männer provozieren.
    Auch in den indischen Religionen wird ein besonderes Verständnis von der Rolle der Frauen weitergegeben. Zum Beispiel gibt es im Hinduismus ein altes Ideal namens Pativrata, es stellt die Männer über die Frauen. Frauen sollen ihren Gatten verehren wie einen Gott. Ist der Glaube möglicherweise ein Hindernis auf dem Weg, dass Frauen einen selbstbestimmten Weg gehen können? Nein, sagt die Religionswissenschaftlerin Katharina Poggendorf-Kakar. Sie selbst lebt in Indien.
    Mitglieder der National Students Union of India (NSUI) protestieren am 9. August 2017 in Neu-Delhi gegen Vikas Barala, Sohn eines regionalen BJP Politikers, der eine Frau mit einem SUV verfolgt haben soll.
    Mitglieder der National Students Union of India (NSUI) protestieren am 9. August 2017 in Neu-Delhi gegen Vikas Barala, Sohn eines regionalen BJP Politikers, der eine Frau mit einem SUV verfolgt haben soll. (imago / Hindustan Times)
    "Weil viele religiöse Ideen ganz tief kulturell verankert sind. Die beziehen sich auf so viele Aspekte in der Gesellschaft. Das betrifft auch die Vorstellung der Sexualität von Frauen. Eines dieser Hindernisse ist die tief verinnerlichte Vorstellung von Reinheit und Unreinheit. Die sexuelle Reinheit der Frau muss geschützt werden. Eine sexuell aktive Frau wird als unrein und damit als abwertend betrachtet."
    Die Frau als aktiver Partner
    Es existieren in Indien zwei gegensätzliche Strömungen nebeneinander, sagt Poggendorf-Kakar. Die konservative, asketische Strömung setzt die Frauen immer in Beziehung zu den Männern: als Gattin, als Mutter, als Schwester. Wobei der Mutterstatus dabei am höchsten gewertet wird. Die liberalere Strömung ist fast genauso alt. Sie hatte vor 2000 Jahren das Kamasutra hervorgebracht, einen erotischen Lehrtext.
    "Wenn man das Kamasutra liest, wird man merken, dass dort durchaus Frauen Subjektivität zugesprochen wurde und sie als aktive Partner betrachtet wurden. Ja, das Buch sogar geschrieben wurde, damit die Sexualität zwischen den Geschlechtern befriedigender, schöner, erfüllender ist. Und neben dem liberalen Strang gibt es den asketischen Strang, der ja auch heute noch da ist. Also die asketische, brahmanische Ideologie von Reinheit und Unreinheit", sagt die Religionswissenschaftlerin.
    Im 21. Jahrhundert wünschen sich viele Frauen in Indien ein selbstbestimmtes Leben. Doch sie werden schnell mit alten Rollenbildern konfrontiert. Frauen, die abends allein unterwegs sind, gelten nicht als schützenswert. Manche Männer glauben, dass sie diese Frauen sexuell belästigen oder überfallen dürfen. Die Gesellschaft schützte offenbar die Täter. Das ändert sich gerade.
    Frauen in bunter indischer Kleidung, eine streckt den Daumen nach unten. 
    Frauen demonstrieren vor dem Haus eines vergewaltigten Mädchens in Neu-Delhi (Dezember 2015). Gewalt gegen Frauen sorgt in Indien immer wieder für Entsetzen. (AFP / Chandan Khanna )
    Poggendorf-Kakar sagt: "In Gesellschaften, die sehr stark auf der Gemeinschaft basieren und weniger auf der Autonomie des Individuums, liegt die Hemmschwelle sehr viel höher, Verwandte, die sexuell übergriffig wurden, anzugehen. Viel höher als in individualisierten Gesellschaften wie Deutschland. Selbst wenn eine Frau, Tochter, Schwester nicht (gegen den Täter) vorgehen möchte, dann ist da ein sehr großer familiärer Druck zu schweigen. Das trifft für viele Gesellschaften zu, in der die Gemeinschaft, die Gruppe einen ganz anderen Stellenwert hat."
    Der öffentliche Raum gehört dem Mann
    Katharina Poggendorf-Kakar hatte in ihrem Buch "Frauen in Indien" herausgearbeitet, welche Rollen Frauen in der indischen Gesellschaft zugestanden werden. Der öffentliche Raum wird als Herrschaftsgebiet des Mannes gesehen. Wenn die Frau aus den vorgegebenen Rollen ausbricht und mehr Freiheit fordert, wird sie abgewertet oder angegriffen.
    Es gebe aber noch einen anderen Grund. Der sei mit dem traditionellen Familienbild verknüpft, erklärt Poggendorf-Kakar. Mütter, die Söhne haben, erfahren eine soziale Aufwertung. Oft komme es dazu, dass Mütter ihre Söhne mit Liebe überschütten, emotional total an sich binden. Die Söhne seien damit überfordert, könnten das gar nicht verkraften. Das räche sich, wenn diese Jungen erwachsen würden.
    Die indische Schauspielerin Ramya (bürgerlich Divya Spandana) bei der Präsentation der App "AVA". Sie soll Frauen, die alleine unterwegs sind, vor Übergriffen schützen.
    Die indische Schauspielerin Ramya (bürgerlich Divya Spandana) bei der Präsentation der App "AVA". Sie soll Frauen, die alleine unterwegs sind, vor Übergriffen schützen. (Manjunath Kiran / AFP)
    "Wie wird das gelöst? Ich denke, indem man als Mann versucht, Kontrolle auszuüben über die Frauen. Und zwar insbesondere über ihre Sexualität. Das ist ein Signal, eine Wiederholung, die wir in allen patriarchalen Kulturen wiedererkennen. Die mütterliche Dominanz führt zu Ängsten, die wiederum, zur Kontrolle von Frauen geradezu zwingt. Das sind ganz, ganz schwierig zu durchbrechende Mechanismen, die viel Bewusstsein und Aufarbeitung von beiden Seiten, Männern und Frauen, erfordert und deshalb ist es ein so langer Prozess."
    "Ein Vergewaltiger ist ein Vergewaltiger"
    Oft töten Vergewaltiger die Frauen nach der Tat. Wenn das Opfer überlebt, steht es völlig allein da, Ehemänner und Familie verstoßen die Frauen. Immerhin gibt es jetzt medizinische Auffangprogramme und Hospitäler. Es sei aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Verbrechen auch zu bestrafen, sagt Meenakshi Ganguly von Human Rights Watch. Künftig sollen auch einflussreiche und vermögende Täter nicht einfach davon kommen. Nicht alle Politiker seien jedoch von der neuen Gesetzgebung überzeugt.
    "Es gibt einige politische Führer, die Entschuldigungen suchen. Die sagen: 'Jungs sind nun mal Jungs. Ach, sie haben es falsch eingeschätzt und die Frauen sollten eben nicht isoliert werden, das sei westliche Kultur.' Meiner Ansicht nach ist das völlig inakzeptabel. Es hat nichts mit westlicher oder östlicher Kultur zu tun. Ein Vergewaltiger ist ein Vergewaltiger – egal zu welcher Gesellschaft er gehört."
    Es ist nicht zu übersehen, dass die Religionen, die in den Kulturen verankert sind, auch wichtig sind bei der Bewertung von Frauenrollen. Vielleicht ist es an der Zeit, auch darüber nachzudenken.